Kommentar von Rainer Nübel : Schuster zuhören
Welche Koinzidenz der Ereignisse! In Stuttgart stellt sich Oberbürgermeister Wolfgang Schuster der Volksversammlung, und wenige Tage später kommt der leibhaftige Papst nach Deutschland, um in Freiburg die Badener selig zu machen und in Berlin vor dem Bundestag zu reden.
Zugegeben, es bedürfte schon einer recht kühnen Exegese, wollte man beidem dieselbe Bedeutung zumessen. Immerhin gilt das geistliche Oberhaupt der katholischen Kirche als unfehlbar. Und man darf dem Stuttgarter Stadtoberhaupt getrost glauben, dass er diesen Anspruch für sich nicht erhebt. Was ja auch gründlich verfehlt wäre, allein schon angesichts der Verfehlungen, die Schuster auf dem Stuttgarter Marktplatz von Teilen seines Volkes vorgeworfen wurden. Lautstark und mitunter mit alttestamentarischem Eifer.
Dass er 2004 vor der OB-Wahl gepredigt hatte, er werde einen Bürgerentscheid unterstützen, wenn beim Bahnbau zu Stuttgart die Kosten gravierend in die Höhe gehen, und sein Versprechen nicht einlöste, als just dies geschehen war, hält bis heute den heiligen Zorn jener irdischen Zeitgenossen wach, die vehement gegen das Unterirdische sind.
Nein, das Wort vom „Glaubenskrieg“ wollen wir an dieser Stelle nicht bemühen und symbolisch strapazieren. Und doch gibt es zwischen beiden Ereignissen ganz augenscheinlich einen Bezug, der die Qualität von Protest und Kritik zur Auslegungssache macht. Und zur Gretchenfrage. In Berlin üben sich etliche Vertreter der Linken und auch der Grünen in papstpolitischer Askese und verweigern Benedikt XVI. bei dessen Bundestagsrede ihre körperliche Präsenz. Und man braucht kein Prophet zu sein: Dass der Stuttgarter Marktplatz bei Schusters Volksversammlungsauftritt sichtlich weniger stark besucht war als beim Auftritt der Grünen-Granden Winfred Kretschmann und Winfried Hermann, lässt auch auf einen Boykott so mancher S-21-Gegner schließen.
Aber liegt in einer solchen Haltung ein Segen für die Demokratie? Nein. Wenn auch Schusters gebetsmühlenartiger Verweis darauf, dass nicht die Stadt, sondern die Bahn Bauherr des Milliardenprojekts sei, keine Offenbarung war. Es war die Chance für S-21-Gegner, mit einem politischen Protagonisten dieses Dauerkonflikts – man könnte auch sagen, mit einer beliebten Hassfigur – zu reden, ihn mit Fakten und Argumenten zu konfrontieren, mit ihm zu streiten. Sie bewusst nicht wahrzunehmen, sie etwa zu boykottieren ist, mit Verlaub, unterirdisch.
Jedenfalls ist es nicht im Sinne der Erfinder. Die Volksversammlung als Zwischenstück zwischen direkter und parlamentarischer Demokratie, wie sie Gangolf Stocker programmatisch beschreibt, lebt vom kritischen Mitreden, auch Streiten – und vom Zuhören. Die meisten S-21-Gegner, die auf den Marktplatz kamen, setzten dieses sinnvolle Diskussionskonzept konstruktiv um. Die Volksversammlung kann, nach vorne hin, dazu beitragen, allzu hermetische Verkrustungen oder gar eine Betonisierung von Positionen und Lagern in dieser Stadt zumindest ein kleines Stück weit aufzubrechen.
Wolfgang Schuster wusste, dass sein Auftritt bei „Wir reden mit“ alles andere als ein andächtiger Gedankenaustausch zur christlichen Nächstenliebe oder ein pietistisches Kaffeekränzchen werden wird. Dennoch hat er sich der Volksversammlung gestellt. Sozialdemokratische Spitzenpolitiker des Landes brauchten da deutlich länger, um sich zu dieser (eigentlich selbstverständlichen) Courage durchzuringen.
In einer Demokratie ist der Bürger der Souverän. Manche Politiker in Bund und Land müssen sich dessen offenbar erst wieder bewusst werden. Doch es kommt maßgeblich auch darauf an, wie souverän Bürger sind und agieren.