: Hoffnung wäre nur eine weitere Falle gewesen
KINDHEIT Angelika Klüssendorf erzählt von einem erzwungenen Rückzug in die Gefühllosigkeit: „Das Mädchen“
VON JÖRG MAGENAU
Es gibt nur wenige Momente der Hoffnung in diesem Buch. Ja, schlimmer noch: Das Mädchen, dessen Namen wir nicht erfahren und das am Anfang zwölf Jahre alt ist, lernt, sich vor der Hoffnung wie vor einer heimtückischen Krankheit zu hüten. Denn auf Hoffnung folgen zuverlässig Enttäuschung und neue Verwundungen. Also beschließt sie, „dass es ihr nie wieder passieren wird, hoffnungsvoll irgendwohin zu fahren“. Wenn sie abhaut, von zu Hause und der völlig unberechenbaren, brutalen Mutter oder später aus dem Heim, weil sie sich, so verrückt das auch ist, nach Hause sehnt, dann nur, um sich in Sicherheit zu bringen, nicht weil irgendwo anders Besseres zu erwarten wäre.
„Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle“, heißt eine Gedichtzeile von Volker Braun. Bei Braun ist das auf den Sozialismus und sein Verführungspotenzial bezogen. Die Zeile würde aber auch auf Angelika Klüssendorfs Roman „Das Mädchen“ passen, auch wenn es da nicht um den Sozialismus als schöne Utopie geht, sondern um einen ganz und gar trostlosen Ausschnitt der DDR-Gesellschaft, der jenseits aller Politphrasen und Ideologien liegt. Das Milieu von Gewalttätigkeit, Armut, Alkoholismus und emotionaler Verkümmerung würde auch in die bundesdeutsche Gegenwart passen. Die Allgegenwart lächelnder Honeckerbilder in den Amtsstuben ist nicht mehr als historische Dekoration, und Heimleiter sind selten angenehm, wenn sie Reden über Vaterlandsliebe halten. „Wie soll sie ein ganzes Land lieben“, fragt sich das Mädchen, „wenn sie nicht einmal ihre Familie lieben kann, und warum heißt Vaterland Vaterland, würde ihr Vater ein Land regieren, ginge es dort drunter und drüber.“
Angelika Klüssendorf, 1958 in Ahrensburg geboren, kam 1961 in die DDR, wuchs dort auf und übersiedelte 1985 in die Bundesrepublik. In ihren Büchern geht es immer wieder aufs Neue um Kindheitsmuster in der DDR. Bei Bedarf lässt sich die Verlorenheit der Figuren und die Verkommenheit der Verhältnisse durchaus als Metapher für die sozialistische Gesellschaft lesen, so entschlossen, so erbittert und rückhaltlos treibt Klüssendorf jeden leisen Ansatz von Nähe, Wärme, Zuneigung aus. Die Kindheit und Jugend, die sie in „Das Mädchen“ schildert, ist eine Lehrzeit in der Panzerung der Gefühle. Größere Verrohung und sadistische Brutalität als die der Mutter, die ihren Kindern Peperonistücke zu essen gibt, um sich über dieses Spiel kaputtzulachen, die ihre Kinder mit ausgestreckten Armen Kissen halten lässt, um sie beim ersten Anzeichen von Schwäche mit dem Gürtel zu verprügeln, die nach einem Abtreibungsversuch mit Stricknadeln in ihrem Blut auf dem Küchenboden hockt und sich als „Zorn Gottes“ bezeichnet, ist schwer vorstellbar.
Klüssendorf geht aber noch weiter und zeigt, wie sich dieser bodenlose Zorn gewissermaßen gesetzmäßig dann auch auf das Mädchen überträgt. Sie, die immer Außenseiterin in der Schule ist, quält, kaum dass sie einmal ein bisschen Anerkennung gewinnt, diejenigen, die schwächer sind, so wie sie stets gequält worden ist. Auch ihren kleinen Bruder schickt sie von einer Verlegenheit in die nächste, obwohl die Geschwister doch Bündnisgenossen sind im Erleiden und zwischen ihnen manchmal sogar Solidarität zu erahnen ist.
Die Härte der Verhältnisse, der kindliche Rückzug in die Gefühllosigkeit, die schockierende Dominanz der Gewalt – all das erinnert an Agota Kristofs Roman „Das große Heft“ und die Zwillinge, die sich dort in einer feindseligen Umwelt zu behaupten suchten. Auch die schmucklose, nüchtern protokollierende Sprache Klüssendorfs, die jegliches Mitgefühl systematisch verweigert, steht in der Tradition von Agota Kristof. Klüssendorf erzählt in einem dichten Präsens und konstruiert damit eine ausweglose, ewige Gegenwart. So wenig es ein beruhigend raunendes Imperfekt gibt, gibt es den Ansatz einer Utopie, die in die Zukunft weisen könnte. Das Mädchen ist in jedem Augenblick gefangen.
Die auktoriale Erzählerstimme bietet keine rettende Distanz. Das macht diesen Roman, dessen Kraft man sich nicht entziehen kann, aber auch sehr hermetisch. Ereignis folgt auf Ereignis, Katastrophe auf Katastrophe, so geht es immer weiter. Vielleicht muss das Buch deshalb so abrupt enden, weil es ein Ende dieser Verhängniskette gar nicht geben kann. Da ist das Mädchen 17 Jahre alt, absolviert eine Lehre in einer LPG als Rinderzüchterin, aber es ist absehbar, dass auch daraus nichts werden wird. Man wüsste gern, wie es ihr in Zukunft ergeht. Vielleicht folgt ja auf „Das Mädchen“ eines Tages „Die Frau“. Das Buch ist so angelegt, dass es diese Fortsetzung braucht, denn erst dann wird sich zeigen, welche Folgen so eine Kindheit hat und ob es vielleicht doch einen Ausweg gibt.
■ Angelika Klüssendorf: „Das Mädchen“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011, 184 Seiten, 18,99 Euro