: Die Bildungsbaustelle
Sie haben das Turbo-Abi gemacht, damit sie schnell studieren können. Aber jetzt, wo das Wintersemester beginnt, stehen die Abiturientinnen ?im Stau vor den Unis. Obwohl Bund, Länder und Universitäten seit Jahren wissen, dass die Doppeljahrgänge kommen. Woran liegt das?
Protokolle ANNA LEHMANN und CHRISTIAN FÜLLER GRAFIK PASCAL SOBOTTA UND Stefanie Weber
„Alles ist so unsicher“
Ich will Lehrerin werden, obwohl ich ziemlich viel Schulchaos erlebt habe, auch mit dem verkürzten achtjährigen Gymnasium. Als ich das Abi dann hatte, musste ich mich sehr lange bewerben, bis ich einen Studienplatz in Latein und Chemie bekam. Jede Uni wollte etwas anderes, echt nervenaufreibend. Man kann das nur mit Humor nehmen - sonst bekommt man die vielen Reformen im Bildungssystem nicht auf die Reihe.
Ich habe mich erst für Musik und ein zweites Fach beworben, an fünf oder sechs Hochschulen. Ich musste fast überall hinfahren. Am Schluss hatte ich aber nur einen Nachrückerplatz in Oldenburg. Das war mir zu unsicher. Also habe ich auf die Fächerkombination Latein und Chemie umgesattelt. Dafür habe ich mich noch mal an acht Universitäten in ganz Deutschland anmelden müssen. Für mich war aber klar: Ich will unbedingt sofort studieren. Mit dem Platz in Dresden bin ich zufrieden. Eine schöne Stadt mit vielen kulturellen Angeboten.
Was ich blöd finde, ist, dass die Studienplatzsuche so schlecht organisiert ist. Ich habe eine ganz ordentliche Abiturnote, das heißt, ich hatte zuletzt Zusagen einiger Unis. Ich nahm den Platz in Dresden - und blockierte damit vielleicht einen Platz in Berlin, Leipzig oder Hamburg, wo ich auch Zusagen hatte. Ich finde, man könnte das auch zentral regeln. Dann ginge das alles reibungsloser und man nähme niemandem seinen Platz weg. Für mich ist das ein komisches Gefühl: Ich ziehe von Zuhause aus - und alles ist so unsicher.
Anna Philina Burmester, 18, Gymnasium Bremervörde
„Ich gehe erst mal nach Neuseeland“
Die Idee, dass deutsche Abiturienten schneller fertig werden sollen, hat uns Gymnasiasten nie sonderlich interessiert. Im Nachhinein finde ich den Stress, den wir uns alle gemacht haben, übertrieben. Man kann das verkürzte Abitur schaffen - wenn man sich entscheidet, was man will. Ich will Meteorologie oder so was studieren. Also habe ich auf Mathe, Physik und Erdkunde gelernt. Dafür habe ich Geschichte und Musik total vernachlässigt. Ich wollte ja nicht nur mit Lernen zu tun haben, sondern auch noch meinen Hobbys als Schulsanitäterin und als Chefin der ökologischen Schülerfirma „enviro“ nachgehen. Von meinen Mitschülern studiert jetzt allenfalls die Hälfte. Die meisten haben ja mit 17 schon ihr Abi, viel zu jung, um sich bewusst ein Studienfach zu wählen. Deswegen wollen viele nachdenken. Die Hälfte geht erst mal ins Ausland. Praktikum in Hongkong, Sprachreise nach Spanien, Reisen nach Südafrika. Man muss sagen: Es war auch viel Panikmache durch die Medien und die Verbände. Das hat einen ungeheuren Druck ausgelöst. Wir wussten: Es kommen zwei Abi-Jahrgänge zugleich aus den Gymnasien. Ich selber hatte einen Blackout. Ich hatte mich mit Eltern, Bekannten und Nachhilfe auf eine Chemiearbeit vorbereitet - und es war nichts mehr da, als ich drin saß. Alles vergessen. Danach habe ich mir gesagt: Ich geh das jetzt lockerer an. Von da an wurden die Noten besser. Am Schluss kam ein Abischnitt von 2,5 raus. Das reicht mir.
Ich habe mir zwölf Jahre vorschreiben lassen, was ich zu lernen habe. Jetzt möchte ich selbst entscheiden, also gehe ich ab 1. Oktober nach Neuseeland auf einen Biohof.
Irina Heitmann, 18, Albert-Einstein-Gymnasium, München
„Ich will endlich mal studieren“
Das Warten ist frustrierend. Ich habe vor zwei Jahren Abi gemacht und würde gern endlich mal anfangen zu studieren. Ich bewerbe mich seit zwei Jahren und bin auch kompromissbereit. Für dieses Wintersemester habe ich mich an der Technischen und der Freien Universität Berlin, in Potsdam und in Frankfurt (Oder) beworben. Im August kamen die Absagen.
Ich würde gern was Kultur- oder Geisteswissenschaftliches studieren, aber das Problem ist, mein Abi-Durchschnitt ist mit 3,4 nicht wirklich gut. Und ich will in Berlin bleiben. Ich habe hier mein Umfeld und einen perfekten Job, der sich flexibel ums Studium drumherum organisieren lässt. Und ich weiß nicht, wie ich es mir in einer anderen Stadt leisten kann, ohne ergänzenden Job. Nein, eine Kleinstadt wäre für mich keine Option.
Die Wartezeit habe ich auf jeden Fall gut genutzt, habe etwa jugendpolitische Seminare und eine Erstwählerkampagne organisiert. Das sind gute Erfahrungen, aber es bringt mich nicht wirklich weiter. Jetzt habe ich die Nase voll. Ich habe mich vom AStA beraten lassen und versuche gerade, mich an der Technischen Universität Berlin einzuklagen, für das Fach Kultur und Technik. Der Numerus clausus liegt bei 2,4, ich müsste noch zwei Jahre warten, um regulär reinzukommen. Ich setze große Hoffnungen auf den Klageweg vor dem Verwaltungsgericht. Anfang November fällt die Entscheidung. Bis dahin werde ich mich in die Veranstaltungen reinsetzen und hoffen, dass ich damit durchkomme. Eine Bekannte hat es im letzten Jahr ähnlich gemacht, und es hat geklappt. Sie ist drin.
Claudia Schönsee, 22, Berlin, in der Warteschleife
Was ist an den Unis los?
Von uns Beratern wollen die Leute wissen, wie sie ihren Studienwunsch umsetzen können. Wenn jemand kommt und sagt, es muss unbedingt Psychologie sein, muss er einen sehr guten Abiturschnitt mitbringen. Der Numerus clausus liegt derzeit etwa bei 1,3. Man muss sich auf Wartezeiten von zehn oder mehr Semestern einstellen. Oder man muss flexibel sein.
Es gibt zwei Ansatzpunkte, flexibel zu sein: entweder beim Fach oder beim Ort. Einige müssen auch in beidem flexibel sein. Für dieses Wintersemester haben wir mehr als 50.000 Studienbewerber mit mehr als 105.000 Anträgen, ohne die medizinischen Studiengänge. An der Universität Köln gibt es aber nur Plätze für bis zu 6.500 Studienanfänger. Für viele Bewerber ist es wichtig, mehrere Eisen im Feuer zu haben. Wir verstehen das. Die Zahl der Bewerber ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Wir spüren es an der starken Nachfrage nach Beratung und an der Flut von E-Mails.
Ich arbeite seit 1981 in der Zentralen Studienberatung. Die doppelten Abiturjahrgänge sind etwas Besonderes. Deshalb gibt es auch die „Kölner Runde Doppelabitur“. Darin sind die Stadt, das Schulamt, IHK und Handwerkskammer, die Berufsberatung der Agentur für Arbeit und die Zentrale Studienberatung der Hochschulen vertreten. Wir erarbeiten Szenarien, so dass auch für den Doppelabiturjahrgang angemessene Studien- und Ausbildungsmöglichkeiten vorliegen werden. Gerade die Eltern haben Angst, dass ihre Kinder schlechtere Chancen haben könnten. Die Schüler sind da noch gelassener.
Walburga Wolters, 62, leitet die zentrale Studienberatung der Universität Köln
Wo bleiben die neuen Studienplätze?
Wir freuen uns sehr, dass die Nachfrage nach Studienplätzen steigt. Die doppelten Abitur-Jahrgänge waren für uns keine Überraschung. Wir haben bereits 2007 begonnen, Vorsorge zu treffen. Mit dem ersten Hochschulpakt haben wir es geschafft, dass zusätzliche 185.000 junge Menschen ein Studium aufnehmen konnten. Nun legen wir einen zweiten Pakt nach und werden zwischen 320.000 und 335.000 Studienmöglichkeiten finanzieren. Das ist dem Bund in diesem Jahr 600 Millionen Euro wert und nächstes Jahr sogar 1,14 Milliarden. Es gibt klare Vereinbarungen mit den Ländern, wie sie die Gelder einzusetzen haben und dass sie darüber berichten, wie viele Studienanfänger zusätzlich studieren. Zum jetzigen Zeitpunkt kann man das aber noch nicht sagen. Das kann überhaupt niemand sagen, weil die Bewerbungsverfahren noch laufen.
Wir sollten uns nicht vormachen lassen, dass Abiturienten wegen mangelnder Studienkapazitäten zunächst etwas anderes machen - etwa ins Ausland zu gehen. Wir begrüßen es ausdrücklich, wenn junge Leute so mobil sind und sich international nach Alternativen umschauen. Das ist aber sicher kein Reflex eines angeblichen Mangels an Studienplätzen. Wir bemühen uns zugleich, ein transparenteres Verfahren bei der Studienplatzvergabe zu bekommen. Es gibt noch technische Probleme bei der Anbindung einzelner Hochschulen an das zentrale Serviceverfahren. Insgesamt kann man sagen: Wir gehen davon aus, dass Vorsorge getroffen ist, um alle Studienbewerber aufzunehmen.
Ulrich Schüller, 53, Abteilungsleiter Wissenschaftssystem im Bundesbildungsministeriu