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Archiv-Artikel

„Rückzug aus den Ruinen des linken Denkens“

BÜCHER Ulrich Raulff leitet das deutsche Literaturarchiv in Marbach. Er selbst veröffentlichte zu Marc Bloch, Aby Warburg und Stefan George. Ein Gespräch über das Lesen und das Leben nach 1968

Ulrich Raulff

■ Der Mensch: Ulrich Raulff, 64, hat Anglistik, Philosophie und Geschichte an der Universität Marburg studiert, 1995 habilitierte er sich für Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er war Feuilleton-Redakteur und -Ressortleiter der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und als leitender Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung. Seit 2004 ist er Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach und seit 2005 Präsidiumsmitglied des Goethe-Instituts. Raulff lebt mit seiner Familie in Marbach.

■ Die Werke: Ulrich Raulff hat viele Schriften aus dem Französischen übersetzt, etwa von Michel Foucault, Robert Castel, Paul Virilio und Lucien Febvre. Er forscht und schreibt über Marc Bloch, Aby Warburg und Stefan Georges. Für „Kreis ohne Meister: Stefan Georges Nachleben“ erhielt Ulrich Raulff 2010 den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie „Sachbuch und Essayistik“. 2013 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen. Vergangenes Jahr ist sein Buch „Wiedersehen mit den Siebzigern: Die wilden Jahre des Lesens“ erschienen.

GESPRÄCH JAN FEDDERSEN

taz: Herr Raulff, Ihr Buch heißt „Wiedersehen mit den Siebzigern – Die wilden Jahre des Lebens“…Ulrich Raulff: Pardon: „Die Wilden Jahre des Lesens“ heißt es.

Korrekt, doch apropos: Gibt es da einen großen Unterschied? Lesen und Leben?

Lexikalisch ist es dicht beieinander. Man muss gar nicht Legastheniker sein, um sich zu vertun. Wir, besser: Viele von uns haben sich damals sehr fruchtbar vertan und das verwechselt. Leben und Lesen hatte teilweise sehr kurze Übergänge und eine ähnlich hohe Intensität. Ich wollte die Siebziger von ihrer medialen Praxis her beschreiben.

Eine Ära des Epigonentums im Geist der Achtundsechziger?

Ich bin kein Achtundsechziger. 1968 war ich noch auf der Schule, danach kam die Bundeswehr, und dann war Achtundsechzig vorbei. Die wirklichen Protagonisten dieser Zeit waren fünf bis zehn Jahre älter als ich. Fünf Jahre mehr oder weniger machten damals viel aus. Es war wie in den Napoleonischen Kriegen: Mit 23 ist man General, mit 25 tot. Die Zeit lief schnell und war kurz getaktet.

Sie wollten auf keinen Fall Epigone sein?

Jede Generation setzt sich mit besonderer Verve von der vorhergehenden ab. Und nein, ich fühlte mich auch nicht so. Rein vom Lebensalter her war bei mir alles auf Anfang gestellt und nicht auf Nachlauf.

Wie haben Sie das linke Biotop Marburg empfunden? Eine Universität hat ja auch die alten Generationen in sich: die alten Meister, die alten Gesellen, die alten Mitläufer …

Klar. Die waren noch da. Und einige Achtundsechziger waren schon in Lehrpositionen eingerückt, weil das zum Teil sehr schnell ging. Jemand wie Gert Mattenklott, der nur wenige Jahre älter war als ich, war schon Professor. Sodass es einem passieren konnte – und das, würde ich sagen, war das Schlimmste –, dass er Nazieltern hatte und Achtundsechziger als Lehrer. So kamen wir in eine gewisse Absetzbewegung.

Wobei die Linken in Marburg schon damals mächtig waren.

In der Tat – in Marburg waren sie geradezu hegemonial, sie saßen sogar im Stadtrat und stellten den Bürgermeister. Aber unsere jungen dummen Geister beherrschten sie nicht. Ich entwich ihnen. Ich fing an, Anglistik zu studieren, hatte auf der Schule schon irgendwie gerne Shakespeare gelesen und dachte, das geht jetzt so weiter mit Shakespeare und Marlowe und was weiß ich, aber nichts dergleichen. Wir lasen William Golding, trieben Ideologiekritik, was ich als Stoff für die Mittelstufe empfand. Ich verlor das Interesse, lief weg und habe deshalb nie anständig Englisch gelernt.

Immerhin war einer wie Wolfgang Abendroth, Politikwissenschaftler, in Marburg präsent. Für viele Linke eine Art säkulare Gottheit?

Wir nahmen Abendroth in erster Linie als Historiker der Arbeiterbewegung wahr. Und das, was er sagte, war leidgeprüft. Seine Lebenserfahrung war der Leidstandard. Wissen Sie, er ist ja von den Nazis nicht nur in dieses Strafbataillon 999 gesteckt worden, sondern saß zuvor im KZ, im Zuchthaus, war gefoltert worden. Unbeschreiblich, was der Mann durchgemacht hatte. Das war ihm immer noch anzumerken. Dabei war er ein großartiger Rhetor.

Liest man Ihr Buch, ist dies vor allem das Dokument einer Zeit, in der wahnsinnig viel um Gedrucktes gestritten wurde. Und wie viel Lust es bereitet hat zu lesen.

Ja, sicher. Aber ich wollte jetzt nicht unbedingt die Nostalgie bedienen. Ich lebe gern in der heutigen Zeit und bewege mich vergnügt in den heutigen Medien. Aber stellen Sie sich noch mal eine Welt ohne Internet vor. Wir beide können uns an sie noch erinnern, aber auch uns rückt sie schon weit weg. Damals war das gesamte Angebot dessen, was Sie lesewütig und aus einer bestimmten intellektuellen Unruhe heraus absuchen konnten, das Meer des Gedruckten. Auf diesem Ozean konnten sie paddeln, nach hierhin und dahin und sich treiben lassen.

Diese alte Ozeanmetapher ist ja ziemlich gebräuchlich.

Richtig, Kant hat sie schon gebraucht. Und dieser Ozean war zu der damaligen Zeit eben noch ein kleiner Papierozean. Der sich übrigens von den Sechzigern zu den Siebzigern hin stark verbreitern sollte durch das fabelhafte Angebot an Taschenbüchern, das plötzlich da war. Es war nicht nur ein explosionsartig erhöhtes Angebot an Literatur da, sondern auch an Theorien. Die hatte es vorher zwar auch gegeben, in ihren jeweiligen Fächern und in Fachzeitschriften verborgen, aber plötzlich wurden sie, ob Ethnologie oder Anthropologie, Linguistik oder Psychoanalyse, in die Öffentlichkeit transportiert.

Gleichwohl haben Sie schon als Kind enorm viel gelesen. Warum war das für Sie so wichtig?

Alle Kinder sind Kryptologen und neigen zum Entziffern vermeintlicher Geheimbotschaften und mysteriöser Zeichen. In dieser Hinsicht war ich vielleicht noch etwas schlimmer als der Durchschnitt, aber ich hatte ein menschliches Vorbild, einen Leser vor Augen. Das war jetzt gar kein gelehrter Mann, auch kein Rabbiner oder Talmudschüler, das war mein westfälischer Großvater, der abends die Zeitung las wie ein frommer Jude seine Schriften oder wie ein Mönch das Brevier. Als hätte er sie auswendig lernen sollen. Ich studierte das und dachte, das muss etwas Ungeheures sein, was sich da abspielt zwischen diesem von mir sehr geliebten Mann und der Zeitung. Und natürlich versuchte ich das irgendwie nachzumachen.

Und Ihr Großvater lobte Sie dafür?

Er lachte und brachte mir so peu à peu bei, wie das geht, das Zeitunglesen. Und dann machten wir zusammen die Kreuzworträtsel. Es war eine spielerische und von der Liebe zu diesem außergewöhnlichen Großvater getragene Bewegung, durch die ich allmählich ans Gedruckte herangeführt wurde

Sie sind einziges Kind Ihrer Eltern?

Ja, und ich wurde in ziemlicher Einsamkeit groß. Der nächste Nachbar war zehn Minuten weit entfernt. Viele der Nachbarskinder empfand ich irgendwie als langweilig oder uninteressant. Ich war auch nicht so ein robustes Kind, ein bisschen kränklich und zart und empfindlich. Ich war ein kleiner Stubenhocker, las viel und ließ mich gern von der Literatur wegtragen.

Wohin?

Dorthin, wo ich gern gewesen wäre.

Sie haben ja Bücher gelesen, berichten Sie, die Sie zuerst gar nicht verstanden haben.

Ich hatte so eine Art persönliche Ganzheitsmethode. Man fegt sich das Ganze irgendwie rein und hofft, dass es sich durch eine Art magische Einverleibung oder einen rätselhaften inneren Digestionsprozess doch irgendwie zur Erkenntnis läutern möge, was natürlich nicht der Fall ist. Trotzdem bleibt irgendwas hängen, einzelne Eindrücke bleiben hängen, auch wenn das Ganze unverstanden bleibt.

Wir nehmen an, dass Sie auch manches zu früh gelesen haben.

Richtig. Man kann nicht mit zehn oder zwölf „Anna Karenina“ lesen. Auch als ich anschließend „Vom Winde verweht“ las, habe ich noch nicht viel verstanden. Als ich später anfing, philosophische Werke zu lesen, Kant oder Adorno, war ich ihnen hoffnungslos ausgeliefert. Aber ich riskierte es und blieb dran. Vielleicht habe ich deshalb bis heute keine Schwellenangst vor schwierigen Texten.

Wie lesen Sie – von der ersten bis zur letzten Seite?

Nein. Ich nehme mir einen Band Hegel und lese da irgendwie ein bisschen drin herum wie andere in einem Roman. Ich fürchte mich nicht davor.

Man muss sich ja auch nicht fürchten, oder?

Viele Leute tun das aber. Sie denken, sie müssten das ganz sorgfältig durchstudieren, müssten Schritt für Schritt hindurchgehen und wie über eine lange Treppe aufsteigen. Ich finde, man kann auch mittendrin irgendetwas lesen. Heidegger hat das übrigens auch so gemacht. Er hat natürlich den ganzen Aristoteles gelesen, aber interpretiert hat er dann eine kurze Passage von häufig nur zehn Zeilen. Über die hat er dann fünfzig oder hundert Seiten geschrieben. Okay, nicht jeder ist Heidegger. Ich will nur sagen, keine Form des Lesens ist illegitim.

Sie schreiben, in Marburg habe es eine Kneipe gegeben, in der an jedem Tisch voneinander separiert die jeweiligen linken Zirkel Platz genommen hatten. Ihr Platz war eher die Bar. Wie findet man die innere Stärke zu sagen: Allein zu sein ist mir lieber als einsam in einer Gruppe, die ich nicht mag.

Wenn es nur immer Stärke gewesen wäre. Manchmal ist es ja auch eine seltsame Mischung aus Stärke und Schwäche, die einen irgendeine Fluchtlinie entdecken lässt. Und wenn man sich unwohl fühlte in diesen Gruppen, aus welchen Gründen auch immer, oder fand, dass man die autoritären Sprachspiele der Linken nicht mitspielen wollte, diese versteinerten und verknöcherten Spiele, dann bot sich der Weg zur Bar als der natürliche an. Und da blieb man ja auch nicht ewig allein.

Aus lauter Dissidenz entdeckten Sie das für Traditionslinke schwerste Gift, die französischen Theorien, Leute wie Foucault, Barthes?

Im Nachhinein ist man versucht zu sagen: Das musste ja so kommen. Das stimmt aber nicht für die Gegenwart, in der man jeweils steckt. Ich würde sagen, es gab hilfreiche Lesekaskaden. Man las ein Buch, das reichte einen an das nächste weiter, und so setzte sich das fort. Man geriet in eine Drift.

In welche gerieten Sie?

Ich wollte auch mal ein anständiger Linker werden, der sich in der Theorie so gut auskannte, wie das erwartet wurde. Also las ich Georg Lukács. Lukács ist ja eine merkwürdige Figur, war Gründervater sowohl für die östlichen Spielarten des Marxismus als auch für den westlichen Neomarxismus. Als Nächstes las ich, immer noch bei der Organisationsfrage und den Fragen nach dem Bewusstsein, Hans-Jürgen Krahl. Damit stand man nun nicht bloß vor den Pforten von Frankfurt, sondern schon mitten in der Stadt. Der Spur des Interesses an Bewusstseinsfragen folgend, kam jetzt Alfred Lorenzer dran. Damit war ich bei der Psychoanalyse angekommen. Irgendwie ging noch mal ein Gartentürchen auf, und ich sah, dass es in der Psychoanalyse noch härteren Stoff gab, der hieß Jacques Lacan.

Und waren mitten in Paris.

Von Lukács zum französischen Strukturalismus – ein kurzer Weg. Obendrein zu dessen schwierigstem und dunkelstem Autor. Ganz wenig war von ihm übersetzt. Jetzt sind wir zu der Übersetzerin hingefahren, Emma Moersch, standen vor der Tür, klingelten und fragten sie, Frau Moersch, was sind das für Texte? Wie kann man das verstehen? Und dann ging mir das nicht schnell genug mit dem Übersetzen, also habe ich mich selbst hingesetzt und angefangen herumzustümpern. Es ging ja nicht bloß darum, dass man diese Texte verstand, sondern man erwartete, dass sie einem die unschlagbaren Argumente an die Hand geben würden, um sich demnächst, was weiß ich, mit der orthodoxen Linken oder auch mit der Frankfurter Schule noch besser auseinandersetzen zu können.

Um die Degen zu schärfen?

Das Ganze war tatsächlich vollkommen strategisch angelegt. Und polemisch, agonal. Es war immer ein Dafür oder ein Dagegen.

Woher nahmen Sie als Student den Mut, einen Star wie Michel Foucault anzuquatschen und um Hilfe zu bitten?

Ich hatte schon relativ viel von ihm gelesen und fürchtete mich nicht davor, Leute anzusprechen. Wir brauchten jedenfalls eine Bescheinigung – und wie sollten wir sie sonst kriegen? Wir hatten’s bei Gilles Deleuze versucht. Vergeblich. Foucault fragte ich, ob er Deutsch spräche, weil mein Französisch doch so entsetzlich schlecht war. Er antwortete ganz wunderbar: Ja, aber nur sehr geradebrecht. Die Sprache aufs Rad geflochten – das hatte er aufgeschnappt, und das hatte ihm gefallen.

Und das Papier erhielten Sie?

Ja, ein Zauberpapier. Es öffnete alle Türen, auch von Bibliotheken, in die junge Schnösel wie wir sonst überhaupt nicht reingekommen wären.

Was sehen Sie in Ihren Lektüren jener Jahre?

Auch wir waren Helden des Rückzugs. Des Rückzugs aus den Ruinen des linken Denkens, ohne deswegen Rechte sein zu wollen, was wir auch objektiv nicht waren. Wir haben uns sicher in den achtziger, neunziger Jahren mit konservativen Autoren beschäftigt, Carl Schmitt etwa. Aber denen galt in den Siebzigern noch nicht unser Interesse. Die französischen Denker waren in der Wahrnehmung von Jürgen Habermas geschichtsvergessene, rechte Theoretiker. Er und andere hatten sie nach rechts verortet. Für uns verkörperten sie eine Radikalität des Denkens, die sich durchaus mit Praktiken verbinden konnte. Mit der Straße, mit dem Megafon, mit Aktion gegen die Gefängnisse oder antipsychiatrischen Bewegungen – oder auch mit Bewegungen, bei denen es darum ging, einen Einzelnen zu retten. Vor der spanischen Garotte etwa oder der französischen Guillotine.

Aber Sie waren natürlich auch verführbar, oder?

Sicher war ich das. Vor allem durch den Aspekt von Radikalität in der Denkaktion. Wie Walter Benjamin einmal von sich gesagt hat: immer radikal, nie konsequent. Das kam mir sehr entgegen.

Denker, auf die Rechte eher halten als Linke, haben Sie stets mehr interessiert, wie in Ihrem famosen Stefan-George-Nachwirkungsbuch?

Nein, das ist nicht der Fall. Das lässt sich leicht widerlegen. Ich habe vorher ein Buch über Marc Bloch gemacht, den französischen Historiker. Der einer der Väter der Komparatistik in der Geschichte ist, der Technikgeschichte und der Formen der Arbeitswelt – und als Widerständler 1944 vor den Toren Lyons erschossen wurde. Danach habe ich mich mit Aby Warburg beschäftigt, dem Bildwissenschaftler und -theoretiker, auch kein Mann der Rechten, sicher nicht.

Es war keine ehrenrührige Bemerkung.

Nun muss man dazusagen, dass die interessanten Autoren auf der linken Seite des politischen Spektrums schon sehr stark beforscht, ja geradezu überforscht waren. Denken Sie nur an Walter Benjamin. Bei Leuten wie Stefan George oder Aby Warburg hatte man noch das Gefühl, in intellektuelles Neuland vorzudringen. Da war noch wirklich viel zu tun. Das wurde gebraucht.

Was würde Sie Linken heutzutage empfehlen, mit wem sie sich lesend beschäftigen sollten?

Ich würde sagen: Tom Sawyer, Huckleberry Finn und die Kunst des Driftens – einem Fluss folgen, hängen bleiben an den Inseln, gelegentlich mal Exkursionen zum Ufer oder über die Ufer machen und sich weitertreiben lassen. Man muss sich übrigens, wenn man das liest, auch die deutschen Übersetzungen ansehen. In den alten heißt es noch Nigger Jim, und die neue ist natürlich politisch korrekt.

Welche legen Sie uns nahe?

Die alte Übersetzung habe ich siebenmal gelesen. Zuerst mit meiner Mutter, dann in der Schule, später im Studium wieder und noch mal später mit meinem Sohn. Und jetzt zuletzt habe ich die neue gelesen.

Ist da erzählerische Wucht durch politische Korrektheit verschwunden?

Nein, das kann man nicht sagen. Heutzutage wird mit einem viel höheren Bewusstsein von der Mächtigkeit der literarischen Tradition übersetzt. Man achtet viel mehr auf Anspielungen.

Die Welt bleibt für weitere Drifts offen?

So lese ich es, ja.

Jan Feddersen, 57, ist taz-Autor und Redakteur für besondere Aufgaben. Er hat selbst mehrere Bücher veröffentlicht