: DIE ACHSE DER CLUBMUSIK VON TOBIAS RAPPAuf der höheren Ebene
Ricardo Villalobos ist der interessanteste House-Produzent der vergangenen Jahre. Mit all den Widersprüchlichkeiten, die mit Interessantizismus in der Musik einhergehen. Als DJ ist er berühmt für seine schier endlosen Sets, die oft selbst dann noch nicht fertig sind, wenn der Club schließt und das Wochenende vorbei ist. Dann macht er einfach in den Afterhour-Läden der Stadt bis in die nächste Woche hinein weiter. Als Produzent wiederum hat er den Sound dieser ganz späten Stunden in einen schlüssigen Entwurf umgesetzt. Die Fabric-Mix-CD mag als DJ-Mix daherkommen, schließlich ist sie Teil der monatlichen Reihe, mit der der Londoner Club seine DJs präsentiert. Tatsächlich ist sie aber ein vollgültiges Villalobos-Album. Alle Stücke sind neue Eigenproduktionen.
Wenn ein typischer House-Track von der Bassline und vier schweren Schlägen auf die Bassdrum ausgeht, dann finden sich diese beiden Elemente auch bei Villalobos noch, nur nimmt er ihnen die Dominanz. Neben, unter und über ihnen klöppeln und zischen noch eine ganze Menge anderer Klangspuren. Das können ganz feine Percussion-Linien sein oder Samples von chilenischen Protestsongs. Was vielleicht am erstaunlichsten ist – und Villalobos’ Soundentwurf abhebt von dem vieler dutzend anderer Produzenten, die ihm auf seinem Weg gefolgt sind: Seine Musik ist eine Musik, die ihren Ursprung in jenem higher state of consciousness der frühen Morgenstunden hat. Sie funktioniert aber auch beim Bügeln zu Hause.
Ricardo Villalobos: „Fabric 36“ (Fabric)
Ganz deep im Vergessen
Dass Deep House in den vergangenen zwei Jahren ausgerechnet von Berlin aus eine solche Renaissance erfahren hat, ist so bezaubernd wie überraschend. Hatte es diese Spielart der Clubmusik zu ihrer großen Zeit in den frühen Neunzigern neben den härteren Techno-Entwürfen doch gerade in Berlin besonders schwer. Henrik Schwarz ist der wahrscheinlich begabteste Produzent dieses neuen Netzwerks von Produzenten und DJs. Nachdem er im vergangenen Jahr mit seinem großartigen DJ-Kicks-Album schon umriss, welche Stränge der schwarzen Musik in seinem House-Entwurf zusammenlaufen – von James Brown und Cymande über Drexciya und Robert Hood bis hin zu Marvin Gaye und Moondog –, präsentiert er mit seinem großartigen neuen Album „Live“ nun, wie es sich anhört, wenn er auftritt. „Live“ ist ein durchgehender Mix aus 16 eigenen Tracks, Remixen und Edits, die samt und sonders bei Live-Sets in verschiedenen Städten aufgenommen und nun zusammengefügt worden sind. Da findet sich sein hypnotischer Remix von „Voui Voui“, einem Stück der norwegischen Folksängerin Mari Boine, genauso wie eine Variante des Funk-Klassikers „Mango Meat“ von Mandrill. „Leave My Head Alone, Brain, Help Me Through The Night“ geht der Refrain von Schwarz’ schönstem Track: Treffender lässt sich kaum zusammenfassen, wie es sich anfühlt, wenn man als House-Connaisseur weiß, dass das rauschhafte Vergessen Voraussetzung jedes wirklichen Verständnisses dieser Musik ist.
Henrik Schwarz: „Live“ (Studio K7!)
Gewitzte Verführung
Ganz andere Baustelle: das Berliner Duo Modeselektor. Wo sowohl Villalobos als auch Schwarz bei allem Humor, der sich in ihrer Musik mitunter findet, am Ende doch durchdrungen sind vom heiligen Ernst ihrer Sache, kann man danach bei Gernot Bronsert und Sebastian Szary lange suchen. Wie kämen die beiden sonst auf die Idee, für ihr neues Album Scooters Mittneunziger-Hymne „Hyper Hyper“ zu covern– als kaputte Electro-Trance-Berlin-Bass-Hymne?
Ihr Debüt „Hello Mom“ gab vor zwei Jahren den Weg vor, den Modeselektor nun weiterhüpfen: Man kann sich die beiden vorstellen wie eine große Fräse, die sich mit Lust an der Zersplitterung in den großen Holzapfel der elektronischen Musik hineinarbeitet: Electro, Trance, Hiphop, Dancehall, Electronica, Dubstep. Dass sie dafür so unterschiedliche Gäste wie Thom Yorke von Radiohead und den Reggae-Sänger Paul St. Hilaire gewinnen konnten, zeigt, wie anschlussfähig dieses Konzept ist. Wer Modeselektor einmal live gesehen hat, weiß allerdings auch, welche natürlichen Grenzen dies hat: Die umwerfende Spontaneität ihrer Auftritte, dieser Spaß an der polystilistischen Zerschredderung auf Basis massiven Bassterrors, kann auf Platte durchaus seine Längen haben. Wie ein Comedian, der sein Publikum jedes Mal wieder bekommt, weil er die gleichen Scherze immer wieder neu erzählt, der auf Platte aber nur halb so lustig ist, weil der Witz auf der Verführungskraft seiner Person beruht.
Modeselektor: „Happy Birthday“ (Bpitch Control/Kompakt)