: Unheimlich leise
LEISETRETER Sinnkrise beim Hören: Der britische Popjournalist David Toop hat die Musik außer Acht gelassen und ein Buch über seine Auseinandersetzung mit der Stille geschrieben
David Toop
VON ELISE GRATON
Der Satz war für einen Musikjournalisten ja auch wirklich bemerkenswert. „Der Versuch, mir alles anzuhören, hat meine Freude am Hören fast vollständig zerstört“, schrieb 2004 der britische Musikjournalist David Toop in seinem Buch „Haunted Weather“. Seine Kollegen beim britischen Musikmagazins The Wire fragten bei dieser Aussage gleich nach, sie grenzte schließlich an beruflichen Selbstmord. Toop aber bestätigte sie. Er konnte keine Musik mehr hören.
David Toop galt damals – und gilt noch heute – als einer der bedeutendsten Musikjournalisten im englischsprachigen Raum. Sein 1984 veröffentlichtes Buch „Rap-Attack“ gehört zu den Standardwerken in Sachen HipHop-Musik und -Geschichte. „Haunted Weather“ umriss das Feld experimenteller elektronischer Musik. Auch als Musiker und Komponist machte sich David Toop seit den 1970ern bemerkbar. Er arbeitete mit Brian Eno und John Zorn zusammen und fuhr auf Klangsuche bis nach Amazonien, um schamanistische Rituale aufzunehmen.
Im Jahr 2004 aber pustete David Toop die 55 Kerzen auf seinem Geburtstagskuchen aus und beschloss, fortan das Geräusch der pflanzenfressenden Schnecken in seinem Garten interessanter als innovative Musik zu finden. „Ich habe einfach meine Umwelt abgehorcht und empfand das als eine Art Sinnesreinigung“, erklärte Toop kürzlich auf der Bühne des Berliner Hebbel-Theaters, wo er sein neues Buch präsentierte: „Sinister Resonance – The Mediumship of the Listener“.
Auch in der gedämpften Akustik von Museen fühlte er sich nun wohler als auf Popkonzerten. In der Londoner Wallace Collection entdeckte er „Die Lauscherin“, ein Gemälde des holländischen Malers Nicolaes Maes aus dem Jahr 1656. Das Bild inspirierte ihn zu einer teils philosophischen, teils autobiografischen Auseinandersetzung mit dem Hören als Sinn und Erfahrung – erweitert um eine Abhandlung der Darstellung von Klang in „stillen Medien“; damit meint Toop die Literatur und die Malerei.
„Die westliche Kulturgeschichte erachtet das Sehen als den primären Sinn, als König der Sinne“, schreibt Toop. „Es ist das Sehen, das es uns ermöglicht, uns selbst mit großer Zuversicht in unserer Welt zu identifizieren, in dem wir erkennen, was sich unmittelbar vor uns befindet. Doch durch das Hören verfügen wir über einen ständigen Zugriff auf eine weitaus umfassendere Welt, einen fortwährend entstehenden und schwindenden, bekannten und unbekannten Kosmos. Er umkreist uns und fließt durch uns hindurch – in all seiner Ungewissheit.“
Toop erinnert sich, wie er als Kind nachts wach im Bett lag und „plötzlich winzig kleine Geräusche bemerkte“, bis sie sich direkt am Rande seines Bettes zu einem Körper verdichteten. Unheimliche Klänge faszinierten den jungen Toop schon immer: Ein Stuhl quietscht, doch da sitzt niemand darauf; der Knall einer Autotür reißt ihn aus dem Schlaf, und aus der Ferne erschallt etwas wie ein Lachen, aber vielleicht hat er es sich nur eingebildet?
Klänge aus dem Nichts, Klänge ohne sichtbaren Körper verleiten ihn zu Assoziationen, entführen ihn zu weit entlegenen, vergessenen oder verdrängten Orten. Im Fluss dieser und ähnlicher Schilderungen beschwört Toop den namenlosen Mörder aus Edgar Allan Poes Novelle „Das verräterische Herz“, der durch die Dielen seiner Wohnung das Herz seines mausetoten Opfers pochen hört. Auch Odysseus’ verhängnisvolle Meerjungfrauen und das stete Röcheln der Robben durch die finstere Nacht, das die Schiffsmannschaft aus Herman Melvilles Meisterwerk „Moby Dick“ in Angst und Schrecken versetzt, ruft Toop in Erinnerung.
Weniger klassische Referenzen bleiben auch nicht aus, wie etwa die Figur des Dr. Francis aus Tom Rices „The Doctor“, „ein Kardiologe, der eine an Fetischismus grenzende Beziehung zu Stethoskopen pflegt“, oder Johannes Torrentius’ verschollenes Gemälde einer Dame, die in das Ohr eines Mannes pisst.
„Sinister Resonance“ schwillt Kapitel um Kapitel zu einem wahren Crescendo aller möglichen Lautgeräusche an, vom unterschwelligen Murren zu leisen Gesängen und stillen Schreien der Weltgeschichte – als hätten sich alle klangbesessenen, sinnesempfindlichen Gestalten der gesamten Literatur- und Kunstwelt in David Toops Buch wortwörtlich verabredet.
Geräusche entstehen im Jetzt und verschwinden im selben Moment. Das geschriebene Wort aber bleibt. „Die literarische Beschreibung – oder visuelle Darstellung – eines Klanges zerrt diesen in die Welt der Dinge, die Welt der Texte“, schreibt Toop. Klangmetaphern erweisen sich als Visionen, als Transpositionen von Zeit- zu Raumeinheiten. „Das konfrontiert AutorInnen mit einem schwierigen, manchmal auch mühsamen Widerspruch.“ Umso ansteckender ist Toops Begeisterung für alle stillen Künste, die sich dem Paradox hingeben und Akte des Hörens, Lauschens und Aufhorchens virtuos einfangen.
Die gesammelten Beispiele verarbeitet er mal zu eigenen Paradestücken, mal zu überbordenden Auflistungen von Hör- und Klangterminologien. Assoziativ, intuitiv, spontan wie ein Improvisationsmusiker baut er jede einzelne Referenz zu neuen Aspekten seines Themas aus. Mit James Joyce verliert er sich im Organ Ohr, „einer Muschelschalle, einer Höhle, einem Raum!“, mit Virginia Woolf philosophiert Toop über lärmende Stille, und aus Marcel Duchamps Aphorismus „Man kann Menschen beim Sehen zuschauen – aber nicht beim Hören zuhören“ schöpft er Erkenntnisse über die Subjektivität der Schallwellen.
Indem Toop minutiös erfasst, wie Klang durch Wort und Bild impliziert und dargestellt werden kann, eröffnet er einen bisher vernachlässigten kunsthistorischen Diskurs über Literatur und bildende Künste. Er geht sogar noch einen Schritt weiter und rekonstruiert die Geschichte des Hör-Mediums, die nicht erst mit der Erfindung des ersten Aufnahmegerätes beginnt, sondern mit der künstlerischen Auseinandersetzung der Menschheit mit ihrer akustischen Umgebung.
„Im Zeitalter der Massenmedien werden alle Sinne wild miteinander verwoben“, stellt David Toop fest. Doch während das Grundrauschen vom Visuellen dominiert wird, stumpfen die anderen Sinne allmählich ab. Und mit ihnen der Geist. Diese Tendenz geht mit einer allgegenwärtigen Kakofonie unserer urbanen Wirklichkeit einher. Wer bringt heute noch genug akustische Konzentration auf, um das Geräusch von Blättern verdauenden Schnecken zu goutieren, wenn um einen herum Presslufthammer dröhnen, Automotoren röhren und musikalische Dauerberieselung per Lautsprecher den Ton angeben?
Eigentlich ist es um den modernen Menschen sogar richtig schlimm bestellt, denn noch unerträglicher als der andauernde Lärm ist laut Toop nun auch die Stille geworden: „Alle Arten von Stille sind unheimlich“, sagt er, „weil wir der Abwesenheit von Geräuschen fremd geworden sind.“
Folgerichtig ist der letzte Teil von Toops „Sinister Resonance“ der Stille als künstlerischem Statement gewidmet. Vor allem bei Künstlern des 20. Jahrhunderts wird sie zum Thema – als Reaktion auf den unsagbaren Schrecken des Zweiten Weltkriegs oder einer aufkeimenden Konsumhysterie. Spätestens seit John Cages Experiment in einem schalltoten Raum, der ihn 1948 den Klang seines Herzes und seines Nervensystems hören ließ, gilt: Absolute Stille existiert nicht.
„Jeglicher Versuch, Stille zu erschaffen, provoziert den Gegenangriff von aufdringlichen Geräuschen.“ Und wenn auch nicht das eigene Herz, dann „der Ballast an Ideen, Glauben und Annahmen, den wir mit uns im Kopf herumschleppen“.
Toops leiser Rückzug in den heimischen Garten und seine schweigsamen Besuche in stillen Museen können als Fluchtversuch eines Menschen vor einem schreienden Alltag abgetan werden, genauso aber auch als das aufrichtige Bedürfnis, endlich einmal in sich hineinzuhorchen. Das hat Wunderbares hervorgebracht, wie „Sinister Resonance“ bezeugt. Toops nächstes Buchprojekt steht auch schon fest und soll der improvisierten Musik gewidmet sein. Denn, er hört inzwischen wieder gern Musik.
■ David Toop: „Sinister Resonance. The Mediumship of the Listener“, Continuum Books, London, 272 Seiten, 19,99 Pfund