: „Ich möchte ein Kämpfer sein“
REVOLUTION Politischer Wandel wird in China nicht übers Internet stattfinden, sagt Michael Anti. Er ist einer von Chinas meistgelesenen Bloggern. Im sonntaz-Gespräch erzählt er, wie Westerwelle ihm hilft, die chinesische Zensur zu umgehen
■ Die Person: Michael Anti heißt mit bürgerlichem Namen eigentlich Zhao Jing. Bevor der 36-Jährige Journalist wurde, studierte er in seiner südchinesischen Heimatstadt Nanjing Computertechnik. Anti berichtete 2003 aus dem Irak, arbeitete im Pekinger Büro der New York Times und der Washington Post. Er erhielt Stipendien von Harvard und Cambridge. Heute ist Michael Anti Kolumnist und Kommentator von zahlreichen chinesisch- und englischsprachigen Zeitungen. Er lebt zusammen mit seiner Frau in Peking.
■ Der Blogger: Mit mehr als 40.000 Lesern unter twitter.com/mranti bei Twitter und noch einmal 20.000 bei der chinesischen Variante Weibo gehört Michael Anti zu den meistgelesenen Bloggern in China. In seinen Kurznachrichten bewertet er zumeist das aktuelle Weltgeschehen. International bekannt wurde er 2005, als der US-amerikanische Software-Riese Microsoft auf Drängen der chinesischen Regierung seinen Blog schließen ließ und alle seine Einträge löschte.
VON SVEN HANSEN UND FELIX LEE (INTERVIEW) WOLFGANG BORRS (FOTOS)
Michael Anti ist ein wortgewandter Mensch. Je größer das Publikum, desto mehr redet er sich in Rage. Seine eigentliche Waffe aber ist das Internet. Deswegen trägt er immer einen 11-Zoll-Laptop mit sich. Sobald er die Möglichkeit hat, geht er ins Netz und schreibt Nachrichten auf Twitter oder Texte in seinen Blog, auf Englisch und Chinesisch. Wir treffen den 36-Jährigen in Berlin, bevor ihm am Abend der Potsdamer Medienpreis verliehen wird.
sonntaz: Herr Anti, sind Sie der chinesischen Führung ein Dorn im Auge?
Michael Anti: Zumindest bin ich noch nicht aufgesucht worden. Aber ich betone auch immer: Ich bin Journalist, kein Aktivist. Ich bringe Nachrichten, mache aber selbst keine.
Aber Leute wie Sie haben in den arabischen Ländern dazu beigetragen, dass die Massen auf die Straßen gingen.
Das mag sein. Und ja, ich setze mich für Medienfreiheit und Transparenz ein. Dennoch ist die Situation in China eine völlig andere. Kurznachrichtendienste wie Twitter spielten in den arabischen Ländern nur deswegen eine so einflussreiche Rolle, weil die Server in den USA stehen. Stünden sie in Kairo oder Tripolis, wäre es für die Machthaber ein Leichtes gewesen, sie einfach abzuschalten. Das kann die chinesische Führung mit den erfolgreichsten Anbietern dort jederzeit machen – deren Server stehen in China. Deswegen sind die chinesischen Betreiber sehr bereitwillig, mit den Behörden zu kooperieren.
Wie sind Sie zum Blogger geworden?
1998 hatte ich zum ersten Mal Zugang zum Internet. Bis dahin war ich überzeugter Anhänger der Kommunistischen Partei. Meine Mutter ist es bis heute. Als 15-Jähriger wetterte ich gegen die Demokratiebewegung auf dem Tiananmen-Platz. Das Internet aber ermöglichte mir einen neuen Blick auf die Welt und die Geschehnisse der jüngeren chinesischen Geschichte. Das hat mich neugierig gemacht. Und kritisch.
Dann wurden Sie selbst aktiv?
Ich merkte bald, dass es mutiger Stimmen bedarf, um gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen. Zugleich ermöglichte mir das Internet, das aufzuschreiben, was ich denke, und es anderen mitzuteilen. So entdeckten mich wohl auch chinesische und internationale Medien als Kolumnisten.
Sie schreiben unter dem Pseudonym Michael Anti. Wollen Sie Ihre wahre Identität verschleiern?
Nein, überhaupt nicht. Ein Name, mit dem ich mich klar identifizieren kann, ist sehr wichtig. Erst dann wirkt man auch glaubwürdig.
Was hat Sie an Ihrem wirklichen Namen, Zhao Jing, gestört?
Jing heißt „still“. Ich möchte aber ein Kämpfer sein. Deshalb finde ich Anti besser. Anti steht für Protest. Der Name ist gegen das Establishment gerichtet.
Facebook ließ deshalb im Frühjahr Ihren Account sperren.
Als ich mich bei Facebook beschwerte, wurde mir mitgeteilt, dass selbst Lady Gaga für ein Facebook-Profil ihren wirklichen Namen verwenden müsse. Kennt den jemand? Das ist doch absurd. Mein Pseudonym entspricht längst meiner Identität in der realen Welt. Meine Leser und Freunde kennen mich als Michael Anti. Ich habe mein Stipendium für die Harvard-Universität als Michael Anti gekriegt. Ich möchte meinen Facebook-Account wirklich gern wiederhaben. Internetfirmen sollten sich nicht zu schlimmeren Webpolizisten machen als Regierungen.
Sie bekamen schon einmal westliche Doppelmoral zu spüren: Die Chatplattform von Microsoft, Messenger MSN, hat 2005 Ihren Blog geschlossen –auf Druck der chinesischen Regierung.
Das hat mir die Augen geöffnet. Vorher hielt ich amerikanische Firmen für liberal und unabhängig. Als Microsoft meinen Blog schloss, erkannte ich, dass auch internationale Unternehmen ein Feind der Meinungsfreiheit sein können. Konzerne fürchten um ihre Marktanteile. Und China ist für viele westliche Firmen ein sehr wichtiger Markt. Microsoft wollte sich Ärger mit der chinesischen Führung ersparen. Das war das erste Mal, dass ich mich von einer amerikanischen Firma verraten fühlte. Heute weiß ich, dass wir den Kampf für Meinungsfreiheit nicht nur in China, sondern auf der ganzen Welt führen müssen.
Microsoft hätte für Ihre Meinungsfreiheit einstehen sollen?
Sie hatten im Grunde über die Frage zu entscheiden, wie viel ihnen Freiheit wert ist. Die Freiheit der Chinesen war ihnen offensichtlich nicht wichtig genug. Doch in China wird die Demokratie Schritt für Schritt Einzug halten. Ich glaube, diesen Verrat wird die chinesische Netzgemeinde nicht so schnell vergessen.
Sie schreiben auf Twitter auch darüber, dass Eddie Murphy die Oscar-Preisverleihung in Hollywood moderieren wird. Was bezwecken Sie damit?
Ich schreibe gelegentlich auch so etwas, weil ich möchte, dass meine chinesischen Leser auch unterhaltsame Dinge aus der englischsprachigen Welt mitbekommen. Einen wichtigen Grund gibt es für diesen Tweet aber nicht. Ich mache das einfach aus Spaß.
Machen Sie das auch aus Spaß, wenn Sie über den deutschen Außenminister twittern?
Nein, dahinter steckt eine ernste Botschaft.
Welche?
In China wird der deutsche Außenminister von den staatlichen Medien gefeiert, um zu zeigen, dass China in seiner außenpolitischen Haltung im Libyenkonflikt nicht alleine blöd dastand. Schließlich hatte Deutschland den Chinesen bei der Ablehnung der UN-Resolution über den militärischen Einsatz in Libyen Gesellschaft geleistet. Wie ich finde, eine falsche Entscheidung. China hätte dafür stimmen sollen. Und das liberale Deutschland auch. Nun aber steht Deutschland auf einer Stufe mit der chinesischen Regierung.
Der deutsche Außenminister dient Ihnen als Projektion, um die chinesische Libyenpolitik zu kritisieren?
Ja, so ist es. Ich schreibe dreimal die Woche für chinesische Zeitungen Kolumnen und habe mich bewusst dafür entschieden, mich mit internationalen Themen zu beschäftigen. Das ermöglicht mir, weitgehend unzensiert und kritisch publizieren zu können. Würde ich über innenpolitische Themen Chinas schreiben, hätte ich Probleme mit der Zensur. Der Fokus auf internationale Politik ist meine Form der Selbstzensur.
Sie gehen also in Ihren Beiträgen nie explizit die chinesische Führung an?
Nein, das wäre unzensiert nicht möglich. Ich darf nur ausländische Regierungen kritisieren. Den britischen Premierminister David Cameron etwa bin ich hart angegangen. Wegen der schweren Unruhen in London wollte er Facebook und Twitter zeitweise dichtmachen. Ich schrieb: Wenn er das macht, wird sich die Lage verschlimmern. Auch die Doppelmoral der britischen Konservativen habe ich heftig kritisiert. Natürlich spiele ich mit dieser Kritik auch auf die Zensur in China an – indirekt eben.
Fast jeder zweite Internetnutzer in China ist bei einem Kurznachrichtendienst wie Twitter registriert. Warum sind diese Dienste in China viel weiter verbreitetet als im Westen?
Kurznachrichtendienste erlauben Meldungen von bis zu 140 Zeichen. Auf Deutsch oder Englisch kann man in diesen Tweets etwa einen Satz schreiben. Im chinesischen aber stellt fast jedes einzelne Schriftzeichen ein komplettes Wort dar. Mit 140 chinesischen Schriftzeichen lässt sich also fast schon eine ganze Geschichte erzählen. Wir können darin alle wichtigen Fragen beantworten: wer, was, wo, wie und warum. Und weil wegen der Zensur in den Mainstream-Medien viele Themen verschwiegen werden, sind Kurznachrichten eine beliebte Alternative geworden. Jeder kann sie schreiben, der über ein Smartphone verfügt. Und das sind in China eine ganze Menge Leute.
Kurznachrichten werden in China also nicht zensiert?
Es gibt schon staatliche Restriktionen. Twitter selbst ist für Nutzer in China nur über spezielle Software abrufbar, die die Netzsperre überspringt. Die chinesische Variante Weibo ist zwar für jeden Chinesen frei zugänglich, der Anbieter lässt jedoch Meldungen mit bestimmten Schlüsselwörtern sperren. Es gibt aber Tricks: Der Jahrestag des Tiananmen-Massakers und der Niederschlagung des Volksaufstands 1989 etwa ist dann nicht der 4. Juni – Nachrichten mit dem Datum werden gelöscht –, sondern der 35. Mai. Darüber lässt sich die Zensur umgehen.
Verändern diese Kurznachrichten die Berichterstattung in China?
Am 23. Juli 2011 prallte in China ein Hochgeschwindigkeitszug auf einen anderen Zug. Es gab 40 Tote. Dieser Hochgeschwindigkeitszug ist ein Vorzeigeprojekt des korrupten Eisenbahnministeriums: Die Geschwindigkeit wurde von 300 auf 380 Kilometer pro Stunde heraufgesetzt. Allerdings kam die dafür nötige Software-Entwicklung nicht mit, weshalb das Warnsystem versagte. Normalerweise vergehen bis zu zwei Tage, bis die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua über Zugunglücke berichtet. Über Weibo waren wir schon vor dem Unfall informiert, dass ein Zug liegen geblieben war. Die Menschen aus diesem Zug schickten Bilder. Reporter hatten sich schnell auf den Weg zur Unglücksstelle gemacht, verschickten von dort aus immer neue Nachrichten.
Wie reagierte die Regierung auf die Nachrichtenflut?
Als schließlich der Sprecher des Eisenbahnministeriums in seinem üblichen Behördenchinesisch verharmlosend vom Unglück berichtete, ohne wirklich über den Unfallverlauf Bescheid zu wissen, wirkte er nur noch lächerlich. In den nächsten sechs Tagen hagelte es Kritik. Mehr als zehn Millionen Mal wurde das Unglück auf Weibo kommentiert. Erst als Ministerpräsident Wen Jiabao persönlich die Unglücksstelle aufsuchte und sich entschuldigte, wurden eine Sperre verhängt und alle kritischen Kommentare gelöscht.
Hat das Ereignis nachhaltig etwas verändert?
In gewisser Weise schon. Denn erstmals wurde der chinesischen Gesellschaft der große Einfluss von Weibo bewusst. Der Sprecher des Eisenbahnministeriums ist inzwischen nach Polen versetzt worden, wo er künftig keine Öffentlichkeitsarbeit mehr machen darf. Auch die Geschwindigkeit der Züge wurde herabgesetzt. Noch nie wurde in China auch in den traditionellen Zeitungen so kritisch und ausführlich über ein Unglück berichtet. Längst nutzen nämlich auch die Journalisten der staatlichen Medien Weibo und warten nicht mehr auf das, was die offizielle Nachrichtenagentur Xinhua herausgibt.
■ Schreiben: Die Volksrepublik China hat mit rund 485 Millionen Nutzern die größte Internetgemeinde der Welt. Innerhalb der nächsten zwei Jahre soll sich die Zahl noch einmal verdoppeln. 195 Millionen von ihnen bezeichnen sich als sogenannte Microblogger. Sie schreiben also regelmäßig Kurznachrichten, die sie über Dienste wie Twitter oder Weibo versenden. Von den 195 Millionen Microbloggern in China sind rund 140 Millionen bei Weibo. Im letzten halben Jahr bekamen die Microblogger insgesamt einen Zuwachs von 209 Prozent.
■ Löschen: Der Kurznachrichtendienst Twitter ist in China zwar gesperrt, kann aber über spezielle Software dennoch genutzt werden. So nutzen in China etwa 20 Millionen Menschen Twitter, vor allem Studenten und junge Menschen in den Großstädten. Verboten ist Twitter in der Volksrepublik nicht. Laut der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua haben Zensoren zwischen April und Juni 2011 rund 790.000 Internetbeiträge gelöscht.
Will die chinesische Regierung nun Weibo loswerden?
Weibo kann für die Regierung zwar zur Gefahr werden, ist ihr aber auch von Nutzen. Weibo hilft ihr dabei, Korruption bei den Lokalbehörden aufzudecken. Und längst ist sie dabei, Weibo selbst zu nutzen, um bestimmte Anliegen zu verbreiten. Das schwere Zugunglück hat aber schon auch dazu geführt, dass die chinesische Regierung die Regeln von Weibo überdenkt. Zehn Millionen Einträge in nur fünf Tagen hat sie doch aufgeschreckt.
Wenn jeder bloggt und twittert, was er will, kommen dann nicht auch Falschinformationen in Umlauf?
Informationen funktionieren wie auf einem Markt. Auf Dauer wird nur dem Blogger geglaubt, der sich auch an die Wahrheit hält. Warum schenken die Menschen in China Bloggern inzwischen mehr Vertrauen als den staatlich gelenkten Medien? Weil in Blogs eher die Wahrheit gefunden wird.
Oder ein Gerücht.
Natürlich entstehen auch Gerüchte. Und meistens wird auf Weibo viel getratscht, es geht um Mode oder andere belanglose Dinge. Dennoch finden sich dort immer wieder auch politische Themen. Und bevor die Zensurbehörden registriert haben, dass auch politisch sensible Themen aufgegriffen wurden, haben sich die Informationen bereits verbreitet.
Warum lassen sich in China dennoch Proteste viel schwerer organisieren als in anderen Ländern?
Über Weibo lassen sich Nachrichten verbreiten. Aber man kann sich nicht so einfach wie bei Facebook vernetzen. Zum Beispiel gab es vor Kurzem Proteste im nordchinesischen Dalian, zeitnah auch in Wenzhou. Zwar wussten sie voneinander Bescheid, aber beides lief völlig losgelöst voneinander. Der soziale Austausch bleibt also begrenzt. Politischer Wandel wird in China nicht übers Internet stattfinden.
Dennoch: Das Internet verändert die Welt. Warum nicht auch das chinesische System?
In westlichen Demokratien wird in regelmäßigen Abständen gewählt, und die Politiker sind dazu angehalten, auf Stimmungen einzugehen. Nicht aber in China. Bis ein gesellschaftlicher Bewusstseinswandel die Politik erreicht, kann eine ganze Generation vergehen. Sicherlich, die Generation, die selbstverständlich mit dem Web aufwächst, wird anders sein. Aber sie kommt noch lange nicht zum Zuge.
Nächstes Jahr bekommt China eine neue Partei- und Staatsführung. Mit einer jüngeren Riege?
Neu und jung? Das bezweifele ich.
Sicherlich wird sie netzaffiner sein.
Sie wird vielleicht mehr über das Internet wissen, aber zu unserem Nachteil. Sie wird noch besser wissen, wie sie es kontrollieren kann.
■ Sven Hansen, 49, ist Asien-Redakteur der taz und war 1997 Korrespondent in Hongkong
■ Felix Lee, 36, taz-Redakteur im Ressort Wirtschaft und Umwelt, hat chinesische Eltern und verbrachte das letzte Jahr in Peking