Marktwirtschaft erobert die Klassenzimmer

BILDUNG Das grün-rot regierte Baden-Württemberg führt als erstes Bundesland das Schulfach Wirtschaft ein. Die Unternehmen freuen sich, doch die Lehrergewerkschaft hält den Schritt für unnötig

STUTTGART taz | Wie hängen Angebot, Nachfrage und Preis zusammen? Welche Interessen verfolgen Arbeitgeber – und was machen Gewerkschaften? Mit diesen Fragen beschäftigen sich bald Schüler in Baden-Württemberg im Fach „Wirtschaft/Berufs- und Studienorientierung“.

Das Bundesland führt „Wirtschaft“ als Pflichtfach ab dem Schuljahr 2015/16 als erstes Land ein. Je nach Schulart sind ab der siebten oder achten Klasse zwei bis drei Unterrichtsjahre geplant. Wirtschaftsverbände fordern seit Jahren einen solchen Wirtschaftsunterricht und freuen sich, dass er unter Grün-Rot nun an die Schulen kommt. Sie hoffen, dass sich mehr Jugendliche für eine Ausbildung begeistern.

„Ohne Wirtschaft geht gar nichts“, sagt Martin Frädrich, zuständig für Ausbildung bei den Industrie- und Handelskammern in Baden-Württemberg. Die IHK bietet an, die Lehrer für das neue Fach weiterzubilden. Das Kultusministerium begrüßt das als „wertvolle Ergänzung“ zu sonstigen Fortbildungen.

Klingt nach einer großangelegten Imagekampagne der Wirtschaft. Frädrich dementiert. Schon jetzt gebe es Bildungspartnerschaften mit Betrieben. Dabei habe zwar auch mal eine Bank versucht, an Adressen der Schüler zu kommen. „So was geht nicht“, sagt Frädrich. Deshalb werde ein Verhaltenskodex für die Kooperationen ausgearbeitet.

Wirtschaftssoziologe Reinhold Hedtke von der Universität Bielefeld gilt als Kritiker von Wirtschaftsunterricht. Dieser beinhalte einen „eminent politischen Konflikt“. Hedtke warnt: „Es geht um das grundsätzliche Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie. Darüber allerdings sollen die Schülerinnen im neuen Fach Wirtschaft nichts lernen, schon der Begriff „Kapitalismus“ wird ihnen systematisch vorenthalten, sie sollen sich mit „Marktwirtschaft“ begnügen.

Frädrich von der IHK sagt: „Sicher vertreten wir die soziale Marktwirtschaft.“ Die Gewerkschaften brächten aber auch ihre Sicht der Dinge in den Bildungsplan ein – genau wie Unternehmerverbände und Kammern. Das Ministerium teilt dazu mit: „Im Mittelpunkt der Arbeit der Bildungsplankommission steht das Interesse am einzelnen Schüler und nicht das von Wirtschaftsvertretern.“ Der Landesschülerbeirat hofft, im Fach Wirtschaft zu lernen, wie man eine Steuererklärung macht, hält das Fach aber für verzichtbar.

Der Geschäftsführer der Lehrergewerkschaft GEW, Matthias Schneider, warnt vor falschen Erwartungen. „Nicht alles, was im Alltag auftaucht, muss in der Schule eine Rolle spielen. Ein Lehrer kann nicht mit allen Schülern ihre Handyverträge durchgehen.“ Man müsse die Schüler selbst dazu befähigen. Die GEW hält das neue Fach für unnötig. Schon jetzt gehe es im Religions- oder Ethikunterricht um moralische Fragen der Wirtschaft, und in Geschichte um die Entstehung von Wirtschaftsmodellen.

„Berufliche Orientierung“ ist im neuen baden-württembergischen Bildungsplan auch als Leitperspektive enthalten und soll sich damit auch durch andere Fächer ziehen. Die Leitperspektive „Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt“ hatte vor etwa einem Jahr heftige Diskussionen über die Bildungsplanreform provoziert. LENA MÜSSIGMANN