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Archiv-Artikel

Ein rückgängig gemachter Zensurakt

DOKUMENTARFILM Wirklichkeitskonzentrate in gestalteten Bildern: Helga Reidemeisters Filme sind demnächst in einer Werkschau neu zu entdecken. Schon heute läuft „Von wegen ‚Schicksal‘ “ (1979), das seinerzeit umstrittene Porträt einer geschiedenen Arbeiterin

Private Gewaltverhältnisse und gesellschaftliche Ursachen sollten im Dialog zwischen Familie und Regisseurin auf den Tisch

Denkbilder, wie Walter Benjamin sie verstand, will Helga Reidemeister mit ihren Filmen schaffen. Das Kino als Traumfabrik hat die Berliner Dokumentarfilmerin und Honorarprofessorin der Filmhochschule in Ludwigsburg seit ihren Anfängen vor rund 40 Jahren nie interessiert. Auch nach zwei Dutzend Dokumentarfilmen empfindet sie die Wirklichkeit als die packendere Herausforderung. Robert Flahertys dokumentarische Entdeckungen sind ihr Credo, nicht die Oberflächenreize, vorgefassten Begriffe und eitlen Auftritte heute gängiger Fernsehdokumentationen.

In Helga Reidemeisters Oeuvre ist viel geduldige und respektvolle Vorarbeit mit den Mitwirkenden vor und hinter der Kamera eingegangen. Sie führt intensive Gespräche, um Situationen aufzuschließen, sie plant präzise Kamera- und Lichtpositionierungen, um auch spontane Momente und Wirklichkeitskonzentrate in gestalteten Bildern zu fassen. Es sind solche Arbeitsprinzipien, die Form und Stil ihrer Filme bestimmen, auch durch die vertraute Zusammenarbeit mit ihrem langjährigen Kameramann Lars Barthel und der 2012 verstorbenen Tonfrau Katharina Geinitz. Helga Reidemeisters Filme, auch die drei jüngsten, zuletzt „Splitter – Afghanistan“ (2012/2014), in denen sie Menschen im kriegsversehrten Afghanistan porträtiert, sperren sich gegen die Formatierung des Blicks.

Eine Werkschau der Deutschen Kinemathek anlässlich ihres 75. Geburtstags gibt nun auch Gelegenheit, die digital restaurierte Fassung ihres seinerzeit heftig umstrittenen Films „Von wegen ‚Schicksal‘ “ (1979) wiederzusehen. Ausgerechnet Helga Reidemeisters Haltung rückhaltloser Empathie verstrickte sie und ihre Protagonistin Irene Rakowitz, eine geschiedene Berliner Arbeiterfrau, Sozialhilfeempfängerin und vierfache Mutter, immer tiefer in den Zerfall der Familie.

Was ursprünglich als Emanzipationsgeschichte einer politisch denkenden, starken Frau begonnen wurde, prallte im Lauf der Dreharbeiten auf die geladenen Emotionen der Kinder und den pseudoesoterischen Fatalismus des Exmannes. Irenes jüngster Sohn will zum Vater fünf Stockwerke tiefer ziehen, während die Mutter das Kind von der Waffenbegeisterung, überhaupt vom Faschismus des Exmannes fernhalten will. (Irenes Faschismus-Vorwurf, im Zorn herausgeschrien, wurde bei der Fernsehausstrahlung von einem ZDF-Oberen gelöscht. Die neue Fassung macht den Zensurakt rückgängig.) Dass die Mutter sich scheiden ließ, nehmen die Kinder als Stigma wahr. Irenes Befreiung aus der Ehehölle wird bestraft, schlimmer noch: In ihrer vertrackten Lage hat die 48-Jährige keine Aussicht, Arbeit zu finden.

Helga Reidemeister lernte Irene Rakowitz kennen, als sie in den 1970er Jahren parallel zu ihrem Filmstudium an der dffb als Sozialarbeiterin im Märkischen Viertel arbeitete. Die Planer des Neubau-Paradieses hatten schlicht vergessen, dort Spielplätze und Treffpunkte für die Bewohner einzurichten. Als angesichts hoher Mieten und mieser Bedingungen die Unruhe eskalierte, entstanden Mieterinitiativen, in denen sich zahlreiche linke Studenten engagierten. Irene Rakowitz, die von ihrem Mann brutal geschlagen worden war und nach langem Zögern die Scheidung durchgesetzt hatte, schlug selbst das Filmprojekt vor. Private Gewaltverhältnisse und gesellschaftliche Ursachen sollten im Dialog zwischen der Familie und der Regisseurin auf den Tisch.

Doch die naive Identifikation mit einer feministischen Heldin macht „Von wegen ,Schicksal‘“ unmöglich. Irene bricht Tabus, wenn sie alles andere als mütterlich ihren achtjährigen Sohn am Mittagstisch zusammenstaucht. Aber hat die verwundbare Frau verdient, dass ihre zweite Tochter sich hasserfüllt von ihr lossagt? Die Sozialarbeiterin Helga Reidemeister scheitert an den monströsen Rätseln dieses Dramas, ihr Film wirkt als Denkanregung und Anfechtung auch heute unvermindert nach.

CLAUDIA LENSSEN

■ „Von wegen ‚Schicksal‘ “ (BRD 1979): Montag, 19 Uhr im Arsenal (mit einer Einführung von Klaus Kreimeier). Am 1. Februar beginnt im Bundesplatz-Kino eine Werkschau mit Filmen Helga Reidemeisters (siehe auch www.bundesplatz-kino.de/index.php?p=a)