: Leben unterm Damoklesschwert
INTEGRATION Jugendliche Flüchtlinge brauchen Sicherheit vor Abschiebung und besseren Zugang zu Bildung, sagen Verbände der Jugendsozialarbeit. Sie fordern eine konsequente Durchsetzung der Schulpflicht
VON SUSANNE MEMARNIA
Soltan Akbari ist ein zielstrebiger junger Mann: Der 19-Jährige, der vor vier Jahren als Flüchtling nach Berlin kam, macht bald Abitur, dann will er studieren: Informatik, Politik, Chemie oder Physik. Das Problem: Er darf nicht. Denn der junge Afghane ist nur geduldet – es ist ihm verboten zu arbeiten, zu studieren oder eine Ausbildung zu machen, er muss jederzeit mit seiner Abschiebung rechnen. „Ich lebe in ständiger Angst und Unsicherheit“, sagt er. „Ich habe keine Kontrolle über mein Leben und meine Zukunft, kann nichts planen.“
So wie ihm geht es vielen jungen Flüchtlingen und Migranten in Deutschland: Bundesweit lebten rund 25.000 Kinder und Jugendliche mit einem Duldungsstatus, „der wie ein Damoklesschwert über ihnen hängt“, sagt die Referentin des Verbands Evangelische Jugendsozialarbeit (EJSA), Judith Jünger, beim Pressegespräch im Beratungs- und Betreuungszentrum für junge Flüchtlinge und Migranten (BBZ) in Moabit.
Noch schwieriger sei die Lage für die – je nach Schätzung – 1.000 bis 30.000 Kinder und Jugendlichen, die illegal im Land sind. „Sie haben gar keinen Zugang zu Rechten, die sie eigentlich haben“, so Jünger. So seien sie etwa von den im Kinder- und Jugendhilferecht verankerten Unterstützungsangeboten zur schulischen und beruflichen Ausbildung ausgeschlossen – obwohl laut SGB VIII jeder junge Mensch in Deutschland ein „Recht auf Förderung seiner Erziehung und Entwicklung“ hat.
Integrationskurse für alle
Die zentralen Forderungen der Verbände, die sich im Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit zusammengeschlossen haben, lauten daher: Sicherer Aufenthaltsstatus für alle Jugendlichen, Legalisierung der „Illegalen“, Integrationskurse für alle Flüchtlinge, auch für jene mit Duldung, und eine konsequente Durchsetzung der Schulpflicht.
Daran hapert es nach wie vor, kritisieren die Experten: Zwar gilt nach der UN-Kinderrechtskonvention und dem hiesigen Schulgesetz auch für Flüchtlingskinder die Schulpflicht, aber diese „wird oft nicht umgesetzt“, so Jünger. Auch Mohammed Jouni von der Initiative „Jugendliche ohne Grenzen“ sagt: „Für die meisten Flüchtlinge ist Bildung das A und O.“ Doch in vielen Bezirken sei es zunehmend schwierig für Flüchtlingskinder, einen Schulplatz zu bekommen, es gebe Wartezeiten von drei bis sechs Monaten.
Einen besonders krassen Fall schildert BBZ-Mitarbeiter Daniel Jasch aus Lichtenberg. Dort gebe es im Wohnheim Herzbergstraße derzeit 80 Kinder, die seit Oktober nicht beschult werden, weil es angeblich keine Plätze gebe. „Aber wir haben im Namen dreier Familien geklagt – die bekamen binnen einer Woche ihre Schulplätze“, erzählt er. Eigentlich habe Lichtenberg eine Deutschlernklasse in dem Heim selbst einrichten wollen, erklärt Jasch, dies sei jedoch bisher nicht geschehen. „Zudem sehen wir diese Art der Beschulung sehr kritisch: Wie sollen die Kinder im Heim Deutsch lernen, wie in Regelschulen integriert werden?“ Die Integration werde so nur erschwert.
Kaum noch Chancen
In ihrem Recht auf Ausbildung behindert werden laut der Verbände auch all jene jungen Flüchtlinge, die bereits 18 Jahre alt sind – und damit nicht mehr der Schulpflicht unterliegen. Für sie gebe es kaum Möglichkeiten, ins deutsche Bildungs- und Ausbildungssystem einzusteigen, sagt Ibrahim Kanalan vom BBZ. „Das System ist nicht auf Leute ausgerichtet, die erst später nach Deutschland kommen.“ Hinzu komme, dass viele jugendliche Flüchtlinge von den Behörden „mit oft fragwürdigen Methoden der Altersfeststellung“ älter gemacht würden, damit sie asylrechtlich als Erwachsene behandelt werden können, so Jünger.
So erging es auch Soltan Akbari. Er kam mit 15 Jahren als unbegleiteter Flüchtling nach Berlin, doch die Behörden glaubten ihm sein Alter nicht. „Sie sagten, ich sei zu schlau“, erzählt er. Offiziell wurde er zum 18-Jährigen gemacht, damit war er nicht mehr schulpflichtig. Dann wurde auch sein Asylantrag abgelehnt, die Behörden glaubten ihm nicht, dass er als Angehöriger des Volks der Hazara verfolgt wurde.
Das BBZ half ihm schließlich, damit er weiter zur Schule gehen kann: Bei der Albert-Einstein-Volkshochschule in Schöneberg habe er den Mittleren Schulabschluss gemacht, nun bereite er sich beim Kolleg Schöneberg aufs Abitur vor, erzählt Akbari stolz. „Ich habe ziemlich gute Noten.“ Ob das ganze Streben etwas nützt, ist ungewiss: Seit zwei Jahren liegt sein Fall bei der Härtefallkommission.