: Was ist das für ein Gott?
DIALOG Religiöse Toleranz und Machtanspruch widersprechen sich – auch in Christian Stückls Münchner Inszenierung von Lessings „Nathan der Weise“
VON SABINE LEUCHT
Die Beleuchtungstechnik ist sichtbar, der Bühnenboden eine Welle aus Holz, von einer geschwärzten Mauer umschlossen. Auf ihr flimmern sepiafarbene Bilder von kämpfenden Reitern in langen Gewändern. Vermutlich ein Kreuzritterfilm, denn in ihrer Zeit spielt das Stück „Nathan der Weise“ in Jerusalem. Auf der Welle steht derweil schon dessen ganzes Personal. Still und stumm; von Stefan Hageneier farblich homogen in recht heutige Alltagskleider unterschiedlicher Volksgruppen gewandet: Die Leute des Sultans Saladin, der Patriarch von Jerusalem, der Tempelherr und das Mädchen Recha – und der Jude, der über seiner Kippa anfangs noch die Schiebermütze trägt: August Zirner, prominenter Gast am Münchner Volkstheater, spielt den Nathan als rüstigen Rentner mit dem Schalk der Jugend. Fast tänzelt er den guten Mann auf die Bretter; körperlich so gewandt wie Nathan es bekanntermaßen auch mit dem Geist und der Zunge ist. Derweil um ihn herum die Beleidigungen einschlagen wie Bomben.
Hausherr Christian Stückl inszeniert Gotthold Ephraim Lessings mehr als zweihundert Jahre altes „dramatisches Gedicht“ über religiöse Toleranz ganz schlicht, und – auch wenn das multikulturelle Ensemble während der Proben viel diskutiert hat – ohne offenkundige Aktualisierungen. Stückl und sein Dramaturg David Heiligers haben das Aufklärungsdrama nur um ein paar „Leck mich am Arsch“ und dergleichen verlängert und um einige Nebenszenen und seinen „Wir sind alle eine Familie“-Schluss gebracht.
Auch bei ihnen erweist sich Nathans vermeintliche Tochter Recha zuerst als christliches Findelkind und schließlich als Spross eines Muslims; und auch ihre Liebesgeschichte mit ihrem Lebensretter wider Willen zerschellt an ihrer insgeheimen Verwandtschaft. Doch die babuschkahaften Enthüllungen, mit denen Lessing die vermeintliche Einheit von Mensch und Volksstamm dekonstruiert, führen hier nicht zu „allgemeinen Umarmungen“. Recha wird von ihrem frisch gebackenen Onkel Saladin wie ein Beutetier von der Bühne geführt, auf der ihr Ziehvater alleine zurückbleibt und die Schlachtenbilder wiederkehren. Diese Geschichte ist noch längst nicht zu Ende.
Immer wieder von vorne
Stückl, gebürtiger Oberammergauer und langjähriger Passionsspieleregisseur, der es immer noch komisch findet, für die Beschäftigung eines türkischen Regieassistenten einen Integrationspreis bekommen zu haben, hat die klassische Schullektüre lange vor den jüngsten Anschlägen in Paris und dem Trubel um Pegida auf den Spielplan des Volkstheaters gesetzt. Auslöser war der letzte seiner allsommerlichen Indienbesuche, wo er selbst an alten Freunden beobachtete, wie sich der Ton zwischen Hindus und Muslimen verschärft. „Warum müssen wir uns alle immer separieren?“, war Stückls Frage an den „Nathan“ im Herbst 2014. Und sie ist heute aktueller denn je. Seine Antwort gaukelt einem nicht vor, dass Verständnis und Verständigung schon die Lösung sind. Es führt eben nur kein Weg daran vorbei. Doch alles geht wieder von vorne los, wenn einer den Besitz der Wahrheit – oder das Recht an einem anderen Menschen – für sich reklamiert.
Die Juden, sagt der Tempelherr, den Jakob Gessner leider allzu eindimensional polternd spielt, haben damit angefangen: Mit dem Stolz darauf, „das auserwählte Volk“ zu sein. Nathan dagegen weist alle Ansprüche auf den „wahren“ Glauben mit der berühmten Ringparabel zurück, worin die drei Weltreligionen aus der Hand eines liebenden Vaters stammen, der keinem seiner Söhne ein minderwertiges Erbe hinterlassen wollte. Und schon gar nicht wollen konnte, dass sie einander im Streit zerfleischen. „Was ist das für ein Gott, der für sich kämpfen lassen muss?“, sagt denn auch Recha – die jüdisch erzogene Christin muslimischer Herkunft – im Stück.
Lessing hat seinerzeit jedem Mut gewünscht, der es wagt, seinen „Nathan“ aufzuführen. Und seit dem Anschlag auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo muss man wohl auch im katholischen, aber „bunten“ München fragen, was mutiger ist: Dem eigentlich netten Sultan einen Bruder hinzuzuerfinden, den Sohel Altan G. als charismatisches Schlitzohr mit lockerem Verhältnis zur Gewalt spielt? Oder – gipfelnd in Thomas Kylaus Auftritt als Patriarch – den christlichen Fundamentalismus der Lächerlichkeit preiszugeben? Ja, auch Saladins bis zu den Zähnen bewaffnete Soldaten sehen nicht eben kultiviert aus. Aber keiner geifert und spuckt so erbärmlich wie der selbst ernannte Schützer der Religion, der an den blinden Bibliothekar aus der Verfilmung von Ecos „Der Name der Rose“ erinnert. Und das Feuer brennt auch auf der Bühne schon wieder.