ausgehen und rumstehen
: Die Königin der Arbeiter der Nacht

Die Angestellten der Gastronomie, die Arbeitenden der Nacht, haben frei. Sie schlafen aus. Das Sonnenlicht kennen sie nur aus Erzählungen. Sie schauen die Sportschau zum Frühstück, dann leihen sie sich einen Film oder gehen in den Supermarkt, der seit neulich bis Mitternacht auf hat, wie praktisch! Dann kochen sie und unterhalten sich über die letzte Nacht, die wie immer lang war. Nach der Arbeit in der Bar zog man noch in die Maria, wo Trentemøller spielte. Der war gut, der Rest des Programms fiel ab. Man hatte Spaß, auch ohne Pillen. Es war Popkomm. Eigentlich war ja immer Popkomm in dieser Stadt, Musiker aus aller Frauen Länder kamen und spielten, legten auf und zogen rum. Durch sämtliche innenstädtische Bezirke.

Am Ende der Nacht schleuderte jemand einem unfreundlichen Taxifahrer einen 50-Euro-Schein ins Gesicht, weil der nicht wechseln wollte. Der war ganz schön verdutzt. Solche Geschichten erzählt man sich, während man Pellkartoffeln mit grünen Bohnen isst und Krautrockplatten hört. Dann kommt noch anderer Besuch, der auf der Gästeliste vom West Germany steht, wo ein persönlich Bekannter elektronische Musik auflegt, plus eins, aber nein, heute können wir nicht ausgehen. Heute strahlt das Sofa. Und später „The Queen“ mit Helen Mirren. Der Besuch geht allein.

Der andere Besuch, der aus Finnland, der die Geschichte mit dem Taxi erzählt und außerdem das Mobiltelefon verloren hat, irgendwo im Rausch der Gefühle und Substanzen, verzieht sich ins Gästebett. Ein bisschen traurig, ein bisschen verstört, ein bisschen kaputt. Am Morgen wird ein weiteres Taxi warten und eine Morgenmaschine in Tegel. Warum Billigflüge immer früh morgens gehen, fragt sich die Runde. Wer möchte um zehn Uhr in Helsinki sein? Niemand, eigentlich. Es herrscht Einigkeit. Dann geht einer zum Kiosk, Eis und Schokolade kaufen. Die Arbeitenden der Nacht schlafen auf dem Sofa ein.

Am Sonntag scheint die Sonne, die ist sonst nur selten zu sehen. Und bald noch seltener. Besonders für die Arbeitenden der Nacht. Am Ufer des Landwehrkanals liegen Pärchen aufeinander und lesen. Schöne Frauen, verbrauchte Männer. Die Frauen haben ein Bein über die Männer gelegt, so machen die das. Es ist ein goldener Septembertag. Man döst in der Sonne, man geht spazieren. Aus einem offenen Fenster säuselt milder Jazz mit Frauenstimme auf die Straße. Die letzthin leider verstorbene Anita O’Day singt „I could write a book“: „I could write a book, about the way you walk, and whisper and look.“ Das ist schön. Wie das Buch ausgeht, weiß man aber nicht. Die Enden sind offen. Die Luft ist klar. Die Körper erholen sich, denken nach, trinken Kaffee, lesen Zeitung. Niemand ruft an, niemand nimmt ein Taxi.RENÉ HAMANN