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Archiv-Artikel

Glanz und Elend

KULTURGESCHICHTE Endlich auf Deutsch: die Amerika-Schriften von Johan Huizinga

VON JULIAN WEBER

Wir wissen viel zu wenig über Amerika“, schrieb der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga im Vorwort der ersten, im Original erstmals 1918 erschienenen Auflage seines Essays „Mensch und Masse in Amerika“. Ein Bekenntnis, das auch für ihn selbst galt. Um Material für eine weitere, 1927 veröffentlichte gesellschaftspolitische Studie zu sammeln, bereist Huizinga im Frühling 1926 mehrere Monate die USA, führt Notizen und tauscht sich mit US-Wissenschaftlern aus. Nun sind Huizingas gesammelte Schriften über die USA zum ersten Mal ins Deutsche übertragen und mit einem Nachwort des Berliner Kulturwissenschaftlers Thomas Macho versehen worden.

Bekannt geworden ist der Autor durch sein Buch „Herbst des Mittelalters“ (1919), die bis heute modern gebliebene Mentalitätsgeschichte einer Epoche. Huizingas Forschungsansatz nahm Methoden der französischen „Annales“-Schule vorweg. Er untersuchte Themen wie Körper, Essen, Frömmigkeit und Liebe, suchte nach „Umgangsformen“ und „Lebensbildern“ im täglichen Miteinander. Ähnlich unvoreingenommen und differenziert ist seine Sichtweise auf die USA der 1920er. Nicht nur, weil er die Widersprüche einer noch jungen Weltmacht anschaulich darstellt, etwa den Gegensatz zwischen dem Verlangen nach individueller Eigenständigkeit und dem Bedürfnis nach Zusammenschluss. Huizinga vermeidet die damals übliche Gegenüberstellung von Kapitalismus und Sozialismus, stattdessen stellt er amerikanische Geschichte entlang des Gegensatzes von Kapitalismus und Individualismus dar.

Dass in der Geschichte der USA ökonomische Streitfragen zu Motiven des politischen Kampfs wurden, findet Huizinga bemerkenswert. Er entdeckt im politischen Alltag des Landes Aspekte der Unterhaltung und findet dafür den Begriff „extravertierte Kultur“. Immer wieder gibt es Exkurse in die Literatur, die Huizinga etwa nach Optimismus absucht. Er ist in einer historisch interessanten Zeit vor Ort, kurz vor der Weltwirtschaftskrise 1929. Er wird Zeuge eines Streiks von Textilarbeiterinnen. Er wundert sich über die Praxis der Prohibition, begrüßt die gelockerte Sexualmoral der Koedukation an den Universitäten und sorgt sich über den religiösen Fundamentalismus.

Huizinga ist kein Kulturpessimist, er sieht den Fortschritt der USA jedoch mit Skepsis, die Psychologie der Werbewelt, der glänzende Schein des Kinos, er glaubt, dass diese Faktoren in Zukunft an kultureller Bedeutung gewinnen werden. Ihn irritiert die Selbstverständlichkeit der Wegwerfgesellschaft, ihre „permanente Verschwendung von Material und Kraft“. Vieles Zeitkritische von Huizinga ist aktuell geblieben. „Amerika ist zugleich sehr revolutionsfeindlich und sehr revolutionär. Eine soziale Eschatologie, gegründet auf einem Klassenmythos, hat nicht die geringste Chance […], weil Amerikas Geist durch und durch pluralistisch, experimentell, opportunistisch, anders ausgedrückt, pragmatisch ist.“

Huizingas Arbeit steht in einer langen Reihe europäischer Deutungen der USA. Angefangen beim französischen Juristen und Politiker Alexis De Tocqueville (1805–1859) und seiner Schrift „Über die Demokratie in Amerika“ (1835), die etwa deutschen 1848er Revolutionären als Diskussionsgrundlage über die demokratische Herrschaftsform diente. Auf Huizingas Analysen fiel allerdings durch den Gang der Weltgeschichte ein Schatten, der erst allmählich gelüftet wird. Huizinga äußerte sich bereits vor 1933 gegen die faschistische Rassenideologie. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten geriet Huizinga in ihr Visier: Bei einer internationalen Konferenz an der Universität Leiden im April 1933 sorgte er als Universitätsdekan dafür, dass ein Nazipropagandist ausgeladen wurde. Dafür steckten ihn die Nazis nach dem Einmarsch in Holland, 1940, in ein Internierungslager. Seine Schriften wurden verboten. Er starb wenige Monate vor Kriegsende 1945 mit 73 Jahren.

Johan Huizinga: „Amerika“. Aus dem Niederländischen von Annette Wunschel. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2011, 380 Seiten, 49,90 Euro