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Archiv-Artikel

Ein illustrer Reigen von Männlichkeit

LEXIKOLOGISCH Rächer aus dem Ruhrpott: In „Ruß“ erzählt Feridun Zaimoglu eine deutsche Ballade von Männern, die um Frauen trauern. Wobei: Realistisches Erzählen interessiert diesen Autor zum Glück ja eh nicht

VON KATHARINA GRANZIN

Die Fehde ist keine urdeutsche Disziplin. Blutige Rache zu nehmen ist nicht gesellschaftlich akzeptiert im Land der Kartoffelesser und wird mit strengen staatlichen Sanktionen vergolten. Doch ist das Ruhrgebiet Deutschland? Mit seinem modernen Völkerwanderungsgemisch, das sich mindestens aus den Genpools Ost-, West-, Mittel- und Südeuropas speist, ist es seit jeher vielfältigen kulturellen Einflüssen ausgesetzt gewesen. Zudem hängt ihm und seinen Bewohnern der Ruf einer ausgesprochen proletarischen Gradlinigkeit an, die man auch übersetzen könnte in einen eher rauen Männlichkeitsbegriff, der davon ausgeht, dass man dem, der einem eine reinhaut, auch eine reinhauen muss.

So fügt sich die Geschichte von Rache, Liebe und Hass, die Feridun Zaimoglu in „Ruß“ zu erzählen hat, recht schmiegsam ein in ihr Milieu. Auch von einer Kioskbude aus kann man einen Rachefeldzug starten. Und wenn der Zaimoglu erst so richtig anhebt zu erzählen, dann muss die reale Welt ohnehin Platz machen für etwas, das größer, weiter und gefährlicher ist als sie selbst.

Renz heißt der Mann, den der Autor zum Rächer macht; und wir halten das ziemlich lange für seinen Nachnamen, bis wir so um die Romanmitte erfahren, dass es nur die Abkürzung seines Vornamens ist, der Lorenz lautet. So ist Renz eigentlich nur ein halber Mann, und das umso mehr, als ihm die Frau einfach weggemordet wurde. Zudem soll sich der Mörder an der Toten vergangen haben. Es ist also ein schweres Trauma, das Renz mit sich herumschleppt und das bewirkt, dass er seinen Beruf als Arzt nicht mehr ausüben kann und sich stattdessen ein paar Brötchen verdient, indem er bei seinem Schwiegervater in dessen Kiosk aushilft. Dazwischen sitzt er zu Hause und malt, und vielleicht ist ja auch dies sein eigentliches, wirklich großes Lebenstrauma: dass er, der Arbeitersohn, Arzt wurde statt Künstler. Wer weiß das schon. Wir nicht, Renz nicht, und möglicherweise auch der Autor nicht, der es vermag, seine Figuren einerseits mit kräftigen, auch mal karikierenden, Strichen zu zeichnen, sie als Charaktere aber doch gleichzeitig im Werdenden zu belassen, ihnen multiple Möglichkeiten mit auf den Weg zu geben.

So steht er schwankend im Leben, Renz, der trauernde, lebensunfähig gewordene Ehemann, von dem wir wohl nicht gedacht hätten, dass er gleich einschlägt, als ein Bekannter ihm anbietet, den Mörder seiner Frau für ihn zu erledigen. Das Einzige, was Renz dafür tun soll, ist, eine Weile auf den psychisch labilen Bruder dieses Bekannten aufzupassen.

Zaimoglu versammelt einen illustren Reigen von Männlichkeit in verschiedenen Erscheinungsformen um seinen Protagonisten. Außer Renz’ patentem Schwiegervater Eckart, der Kleingärtner, Kioskbesitzer und eine Art Überlebenskünstler ist, sind das sämtlich Typen, denen das geregelte Leben irgendwie entglitten ist, wie auch Renz einsieht, als er sich und die anderen einmal betrachtet: „Ein Irrer, zwei Schläger, ein Ex-Säufer, der die Asche seiner Frau in Portionen schluckte.“ In Begleitung des Schlägers Karl reist Renz nach Warschau, um den irren Josef zu finden, den er babysitten soll. Doch Josef trägt offenbar einen tiefsitzenden Hass gegen Renz in sich, den der sich nicht erklären kann. Die Ursache dieses scheinbar irrationalen Gefühls erfahren wir erst gegen Ende des Romans und haben gar nicht geahnt, dass hier des Pudels Kern liegen könnte. Denn in den Tiefen seiner sprachbesessenen Wirklichkeitstransformation transportiert dieser Roman eine veritable Kriminalgeschichte, deren Showdown aus welchen Gründen auch immer in den österreichischen Alpen spielt.

Aber nach solcherart Handlungslogik zu fragen fällt einem ja gar nicht erst ein. Denn obgleich dieses Buch der äußeren Form nach sehr wohl ein Roman ist, gehorcht es eigenen Gesetzen. Zaimoglus Art, mit der Sprache zu arbeiten, ist nicht die eines herkömmlichen Romanciers, sondern eher lyrisch-performativ. Realistisches Erzählen interessiert ihn nicht. Die Welt, in der Renz lebt, setzt sich zusammen aus genau gesuchten und erwählten Worten. Aus schillernden, starken, mitunter rätselhaften Morphemverbindungen, die nur unter anderem möglichst genau das beschreiben, was Renz gerade umgibt. Und die durch die schiere Exotik ihrer Verwendung einen Filter der unnatürlich verdeutlichten Wahrnehmung zwischen Text und Leser schieben. Zirkeldorn, Schwenkköcher, Klingelloch und Pflanzkralle mögen Dinge des Alltags sein, die einem schon oft begegnet sind, doch hat man ihnen bisher nie ein sprachliches Zeichen zuordnen können oder den Drang dazu verspürt. Dank Zaimoglu ist das jetzt anders.

Hinzu kommen sprachliche Neuentdeckungen, deren Entsprechungen in der wirklichen Welt man manchmal nur erahnt, wenn man nicht auf bestimmten Spezialgebieten bewandert ist oder aber aus dem Ruhrgebiet stammt. Unter „Eisplacken“ lässt sich noch etwas vorstellen, auch unter einem „Klampfenherrmann“. Aber welche Stelle der weiblichen Anatomie genau das schöne Wort „Venusraute“ bezeichnet, darüber gibt der Roman keine detaillierte Auskunft. Dafür gewinnt man an großartig unnützem Wissen hinzu, dass Hunde zwischen Hals und Brust über eine Hautfalte verfügen, die „Wamme“ genannt wird. Zwischen ruhrpöttschen Ausdrücken wie „Potthucke“ oder „Schrux“ und einer verschwenderischen Anzahl von Eigenschöpfungen wie „Fledermaus-Fassadenquartier“ ist für jeden etwas dabei. Es grenzt an eine lexikologische Orgie.

Gerade durch diesen überempfindlichen Umgang mit der Sprache stellt sich der Eindruck einer gewissermaßen durch Überpointierung erreichten Unschärfe ein. Hinzu kommt ein stark rhythmisierter, sehr unprosaischer Schreibduktus, der mitunter ausufert in – „unterbrochen wird“ verbietet sich zu sagen – aus dem Text hervorgehobene, fett und in Groteskschrift gesetzte Passagen, die eine inhaltliche Metaebene über dem Ganzen aufziehen und im Textganzen ein fast szenisches Moment darstellen.

Als würde die Handlung für einen Moment einfrieren, einer aus der Kulisse zwischen die erstarrten Gestalten der Darsteller treten und zum Publikum monologisieren, etwa über das stolze Selbstverständnis des Ruhrgebiets: „Ruß wischen wir weg. Den schwarzen Staub im Gesicht wischen wir weg. Fein und sauber siehts in unsren guten Stuben aus. Wie Pfoten alter Hunde hängt uns das Haar über die Ohren.“

Wenn man dieser prachtvollen Prosa überhaupt etwas vorwerfen möchte, dann vielleicht ungerechtfertigterweise eben dies, dass sie einen Großteil der Aufmerksamkeit der Lesenden auf sich selbst zieht, statt ein bescheidenes Instrument im Dienste der zu erzählenden Geschichte zu sein. Natürlich ist es schon schön, wenn Renz, der dumm genug ist, der Rache den Vorzug vor einer neugefundenen Liebe zu geben, am Schluss eine ganz unverdient glückliche Schicksalswendung zustößt. Ein anderes Ende aber hätte man auch locker verschmerzt. Schließlich lässt sich das schwärzeste Elend mit Freuden ertragen, wenn es nur großartig genug erzählt ist.

Feridun Zaimoglu: „Ruß“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011, 267 Seiten, 18,99 Euro