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Und draußen vor der großen Stadt

FAMILIENCHRONIK Katholizismus, Nationalsozialismus, Nachkriegszeit, bayrischer Anarchismus – der Schauspieler Sepp Bierbichler erzählt sprachmächtig die Geschichte des „Seewirts“ vom Starnberger See

VON ANDREAS FANIZADEH

Wer bin ich, woher komme ich und wer muss ich sein? Ungewolltes Erbe und gottgegebene Tradition – das sind die zentralen Themen von Josef Bierbichlers Roman „Mittelreich“. Bierbichler erzählt eine Geschichte aus der Voralpenregion nahe der bayrischen Landeshauptstadt. Es ist wohl teilweise die seine, die seiner Eltern und Großeltern, die in Ambach am Starnberger See eine Landwirtschaft und das Wirtshaus Zum Fischmeister betrieben. Nach der Lektüre ist man geneigt zu sagen: Seit Oskar Maria Graf hat – mit Ausnahme von Wolf Haas, aber der ist ja Österreicher – kaum ein Gegenwartsautor das Ambivalente des katholisch-ländlichen Alpenraums besser beschrieben. Das Schroffe, das Devote, das Brutale und das Liebenswürdige.

Bierbichler erzählt von drei Generationen, von denen die ersten beiden in zwei Weltkriege marschierten. Von einem Land, das gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend von der Moderne erfasst, neu durchmischt wurde und das die Katastrophe des „Dritten Reichs“ durchlebte, oft in strammer Anhängerschaft zum Führer.

Katholen-Saga mit Hermaphroditen

Bierbichler bietet für seine Katholen-Saga einiges an Personal auf: Monarchisten, Nationalsozialisten, bayrische Dickschädel, reiche Sommerfrischler, arme Flüchtlinge, Deserteure, Zwangsarbeiter und Hermaphroditen. Und was vom stolzen Patriarchen nach 1945 zurückkehrte, in „Mittelreich“ ist es beim Seewirt eine Mischung aus Depression und weinerlicher Aggression. Des Seewirts Kinder werden aufs katholische Internat gezwungen, wo einer der Buben, im Roman Semi genannt, vom Pater sexuell missbraucht wird. Bierbichler schildert dies als Teil des Alltags im Internat, wovon die Seewirts-Eltern nichts hören wollen. Und er schildert weiterhin die fortschreitende Entfremdung der nach dem Krieg geborenen Generation von Eltern und früheren Autoritäten, den Riss, der durch die Familien in den 1960er Jahren ging.

Etwas weiter oberhalb am Starnberger See, in Berg, war Oskar Maria Graf 1911 noch durchs Fenster geklettert, um den Schlägen seines Bruders und der Bäckerlehre in Richtung Münchner Freiheit zu entkommen. Ein halbes Jahrhundert später ließ sich die Liberalisierung des Lebens auch auf dem Lande nicht mehr aufhalten. Die Zeiten ändern sich, und wie, das beschreibt der Schriftsteller Bierbichler mit großer sprachlicher Intensität und einer Leidenschaft für die Schicksale gerade der einfachen Leute, ohne diese dabei zu verklären. Vieles ist böse und bleibt es auch, gerade so man sucht, es zu verstehen.

Sprachlich ist der Roman ein Genuss. Er ist ohne populistischen Unterton nahe am Mündlichen und Dialekt gebaut. Sepp Bierbichler versteht etwas von Dramatik und Szenenfolge. Sein Erzählen erweist sich als geschichtsmächtig, Perspektiv- und Tempowechsel sorgen für Spannungswechsel und zeigen eine sehr vielstimmige Gesellschaft.

Vieles klingt grotesk, manches skurril, und einiges geht an die Grenze dessen, was man bis heute hören möchte. Der 1948 geborene Autor Bierbichler wurde selber ins Internat geschickt. Wie autobiografisch er seine Figuren im Roman angelegt hat, darüber rätseln nun viele. Im Buch offenbart sich der missbrauchte Semi der Mutter, die dem Jungen aber nicht helfen kann: Das von ihm Behauptete liegt außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Und von dem in sich gekehrten Vater, der nach Krieg und Nationalsozialismus zum Frömmlertum neigte, hat die Romanfigur Semi in den 1950er und 60er Jahren erst recht keine Hilfe zu erwarten.

Wenn der Sturm über den See hinwegfegt

Ein Bauernhof und eine Seewirtschaft – draußen vor der großen Stadt –, die Kulisse erweist sich in „Mittelreich“ als idealer Ort, um die Menschen und ihre Gesellschaft einzufangen und zu charakterisieren. Expressionistisch ausschweifend dabei jene Szene, in der die Urgewalt des Sturms über den zugefrorenen See fegt und das Dach der Seewirtschaft in der Nacht fortzureißen droht, während eine morbid-dekadente Faschingsgesellschaft ein frivoles Festchen mit Hitlerbärtchen feiert.

Großen Raum gibt der Erzähler Bierbichler auch den Knechten der Weltgeschichte. Oft wurden sie tatsächlich zum festen Teil patriarchal gesteuerter Großfamilien. Auf der Internetseite des Wirtshauses Zum Fischmeister steht heute zur wirklichen Geschichte des Hauses vermerkt: „Ende des achtzehnten Jahrhunderts übergab der letzte Fischmeister dieses Namens nicht an seine beiden Söhne, sondern an seinen Knecht, namens Johann Castulus Bierbichler.“

So kam also die tatsächliche Familie des Autors Bierbichler zu einem Erbe, das, folgt man dem Roman, so geliebt nicht immer war. Schon die von Bierbichler fiktional in Szene gesetzten älteren Seewirte hörten gern Opern (Wagner und Italiener). Sie stehen in „Mittelreich“ öfter singend am Ufer in dunkler Nacht, mussten ihre Leidenschaft für das Künstlerische aber eher auf den Kirchenchor begrenzen.

Es dürfte Sepp Bierbichler etwas Kraft gekostet haben, in Ambach weiterhin zu leben, über den Starnberger See auf die Zugspitze zu schauen und diesen Roman zu schreiben. Doch er verachtet nicht, woher er kommt, und auch die Figuren des Romans bleiben Teil des sich verändernden Ganzen. An einer Stelle im Mittelteil des Romans steigt der bäuerliche Mensch, ohne zu Zögern, in eine ekelhafte Güllegrube hinab, um ein junges Entlein zu retten, „und alle Kinder des Hauses waren da“. Kurz darauf wird das gerade geborgene Entlein von den Anwesenden verspeist. Das naturnähere Leben – Bierbichler beschreibt es, ohne es zu verdammen.

Einige Kritiker behaupten nun, der berühmte Schauspieler habe seinen Roman „mit Blut“ geschrieben. Und sie brüsten sich damit, zu wissen, wie der frühere Hund des Bierbichlers geheißen habe. Doch das mit dem Blut ist unsinnig und das mit dem Hund unwichtig. Bierbichler ist kein Heimatdichter, und um sein Buch zu verstehen, bedarf es keinerlei Kenntnis seiner tatsächlichen Biografie. Dazu ist ihm die dialektgefärbte Fiktionalisierung mitsamt der nüchternen Analyse zu gut gelungen. „Mittelreich“ ist die geglückte literarische Auseinandersetzung mit dem ländlichen Katholizismus, mit einem Erbe, vor dem manche bis heute davonlaufen – das man aber auch wie im Falle Bierbichler annehmen kann, um es umzupflügen.

Josef Bierbichler: „Mittelreich“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 392 Seiten, 24,90 Euro

Und als Hörbuch: „Josef Bierbichler liest Mittelreich“. DAV, 2011. Box mit 10 CDs, produziert von Bayern2

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