: Dieses Schillernde, 24 Stunden lang
30. APRIL Als könnte man über die Stadt fliegen und sich dann heranzoomen an einzelne Personen, auf der Suche nach einem Schlafplatz, nach Liebe oder Abenteuern: Annett Gröschners Roman „Walpurgistag“
Dieser Roman ist reich. Reich an Geschichten, reich an Erzählformen. Reich an Alltag, reich an Fantastischem. „Walpurgistag“ ist der Roman einer Schriftstellerin, die kleine Dinge beobachtet, wie zum Beispiel jemand seine Umzugskisten beschriftet, und daraus einen Erzählfaden spinnt, der rückwärts durch die Geschichte eines ganzes Mietshauses in Berlin-Mitte läuft, bis in die Zeit zwischen den Weltkriegen hinein. Oder aus dem Design einer Kaffeemaschine, Ostprodukt und für den Export gemacht, mal eben so auf 15 Seiten eine Geschichte entwickelt, die den Tauschhandel der DDR, eine zerbrochene Ehe, eine versehentliche Schwangerschaft, einen Unfalltod, die Zeit der Wende, das Überleben von Ostmobiliar beim türkischen Trödler West und schließlich den klammen Haushalt einer alleinerziehenden deutschtürkischen Mutter in Kreuzberg umfasst.
Die Geschichte der Kaffeemaschine ist nur ein Kapitel in dem Roman „Walpurgistag“ von Annett Gröschner und hat die wunderbare Überschrift: „6:20 Uhr Eine Kaffeemaschine erweckt Aso Aksoy und ihre Tochter Emine zu neuem Leben und hat selber schon sechs gehabt“. Solche Kapitelüberschriften sind ein Versprechen, sie skizzieren einen Schauplatz und schaffen Orientierung. Das erinnert an E. T. A. Hoffmann und seine Märchen, etwa „Der goldene Topf“. Auch da sind die Kapitelüberschriften lang und inhaltsreich, auch da hat sich den Dingen manchmal ein Wissen angeschmiegt, das über die Perspektive eines Menschenlebens hinausgeht. Auch für die plötzliche Wende ins Fantastische, die sich bei Gröschner oft an das sehr Konkrete anschließt, könnte Hoffmann ein guter Pate gewesen sein.
Um 0 Uhr am Morgen eines 30. Aprils beginnt der Roman, der 24 Stunden später endet. Jedes Kapitel ist genau datiert, die Schauplätze und Protagonisten aber wechseln und werden erst gegen Ende zusammengeführt. Manche Erzählstrecken ziehen wie ein Kurzfilm an dem Leser vorüber, etwa wenn die Mädchen, die sich Sugar, Cakes und Candy nennen, den dilettantischen Überfall auf eine Kneipe im Wedding beobachten. Andere Kapitel, dialogisch abgefasst, haben dagegen das Zeug zum Bühnensketch wie die Initiation von Frau Schweikert in die Rituale eines Altersheims am Kollwitzplatz. Manchmal verschmilzt die Autorin mit ihren Protagonisten und erzählt aus der Sicht vom halbwüchsigen Paul über seine korndurstige Mutter; manchmal deutet sie ein Geheimwissen ihrer Figuren an, etwa das des durch die Stadt streifenden Alex, der mehr von dem Personal der Romanautorin zu wissen scheint als diese selbst. Möglicherweise ist er ein ehemaliger Stasiagent; vielleicht aber auch mit jenen Mächten im Bund, die sich nur in der Walpurgisnacht offenbaren.
Für dieses Schillernde, für dieses Hinüberspielen des Wirklichen ins Imaginäre, liefert die Geschichte selbst, der Stadt Berlin nämlich und ihrer Ost-West-Historie, so einiges an Grund. Annett Gröschner spielt das nicht aus, sie streift es eher hier und dort, und doch gelingt es ihr, hinter jedem der oft nah an einem Protagonisten geführten Erzählstränge die Geschichte einer großen Stadt aufscheinen zu sehen. Man glaubt die Schriftstellerin vor sich zu sehen, gebeugt über einen aufgeklappten Plan von Berlin und ihre Protagonisten zwei, drei Straßen oder zwei, drei Bezirke weiter vorschiebend, bevor sie sich wieder nah an sie heranzoomt, bis in die Gedanken der Schlaflosigkeit hinein.
Annett Gröschner ist Schriftstellerin und Journalistin. Sie hat die Arbeit am Roman mit einem Aufruf begonnen, als sie über einen Radiosender die Hörer bat, ihr mitzuteilen, wie sie den 30. April 2002 erlebt haben. Aber diese Materialsammlung ist nur ein Ausgangspunkt gewesen. 2006 schrieb Gröschner für die taz über eine Tagung in Dortmund, die dem Arbeitsbegriff in der Literatur galt. Sie stellte fest, dass sich die „Zumutungen des 21. Jahrhunderts“ und die „ökonomischen Verwerfungen des letzten Jahrzehnts“, was die Prekarisierung der Arbeitswelt betrifft, in der Gegenwartsliteratur fast gar nicht wiederfänden. Dieses Defizit zu beheben, auch das geht sie „Walpurgistag“ an. Zum Prekariat gehören alle ihre Figuren, auch wenn die einen putzen gehen und die anderen Jobs in der Dramaturgie eines Theaters haben.
Übrigens kommt auch die Scham des Künstlers vor, der sich in ein sozial fremdes Milieu hineinbegibt, aus Recherchegründen und der Authentizität wegen. Dieser offene Zweifel an den eigenen Instrumenten macht das Schreiben von Annett Gröschner sehr sympathisch. Ihre selbstverordnete Solidarität mit Hausbesetzern und Zwangsumgesiedelten, mit Schulschwänzern und Lehrerinnen, mit Taxifahrern und Wartenden auf dem Arbeitsamt wird bei dieser Autorin nie peinlich, oder anklagend, oder pathetisch. Oder gar menschelnd. Man ist immer vielmehr damit beschäftigt, zu überlegen, wie es weitergehen könnte, was die Person als Nächstes tun wird, wie sie sich entscheidet. Und deshalb will man vor allem eins: weiterlesen.
KATRIN BETTINA MÜLLER
■ Annett Gröschner: „Walpurgistag“. DVA, München 2011, 448 Seiten, 21,99 Euro
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