: Langfristigkeit sells
STROMPREISE Der europäische Strommarkt funktioniert immer besser. Er sollte durch langfristige staatliche Verträge ergänzt werden. Das aber ist umstritten
■ ist Leiter der Abteilung Politik und des Thinktanks bei Climate Change Capital in London. Climate Change Capital ist ein Anlageverwaltungs- und Beratungsunternehmen.
Seit Jahren versuchen Europas Politiker und Regulierer, den europäischen Binnenmarkt für Energie zu vervollständigen. Die Vision: Strom soll mit derselben Leichtigkeit zwischen Paris und Berlin gehandelt werden wie zwischen München und Hamburg. Die Strompreise würden sinken, die Sicherheit der Stromversorgung würde steigen und die Integration der erneuerbaren Energien besser gelingen.
Tatsächlich hat es bereits einige Erfolge gegeben: Die Strombörsen in fast ganz Europa sind jetzt aneinandergekoppelt und haben einen gemeinsamen Handelsalgorithmus. Einige Grenzkuppelstellen zwischen Staaten wurden ausgebaut und haben die „Hardware“ des europäischen Energiebinnenmarktes verbessert.
Staat versus Strombörse
Trotz dieser Fortschritte wird die Energiepolitik mitnichten europäischer – sie wird nationaler. Kürzlich haben die Staats- und Regierungschefs die Klima- und Energiepolitik bis 2030 fortgeschrieben und sich dabei umfassende nationale Freiheiten und Vetorechte gesichert. Von noch unmittelbarerer Relevanz ist aber ein anderer Trend.
Die Vervollständigung des europäischen Energiebinnenmarktes beruht zentral auf dem kurzfristigen Handel mit Energie an der Strombörse, denn hier ist es relativ einfach, länderübergreifende Märkte zu schaffen. Die gesamte Regulierung zielt darauf ab, Handelshindernisse für die Börsen abzubauen. Doch während hier tatsächlich Fortschritte erzielt werden, gehen immer mehr Länder zu langfristigen Verträgen mit dem Staat über, welche die Strombörse fast irrelevant machen. Diese Verträge werden von nationalen Regierungen vergeben und zersplittern deshalb in der herkömmlichen Sichtweise den europäischen Binnenmarkt.
Die Förderung erneuerbarer Energien durch Einspeiseprämien ist leider nicht das einzige – sehr willkommene – Beispiel. Immer mehr Länder förden auch konventionelle Kraftwerke wie Kohle oder Gas mit Kapazitätszahlungen. Das sind Zahlungen für die reine Bereitstellung von Leistung für den Notfall. Großbritannien etwa schrieb kürzlich kurz- und langfristige Verträge für fast 50 Gigawatt an Stromerzeugungsleistung aus, was fast der gesamte konventionelle Kraftwerkspark im Land ist. Auch in vielen anderen europäischen Ländern wird die Einführung solcher Kapazitätsmärkte diskutiert. So denkt Deutschland darüber nach, wie der Strommarkt an die Energiewende angepasst werden kann. Eine Grundsatzentscheidung steht bevor.
Kapitalkosten sinken
Ein Grund hierfür ist paradoxerweise die Privatisierung. Die meisten konventionellen Kraftwerke, die heute am Netz sind, wurden gebaut, als die Stromerzeugung noch im Staatsbesitz war. Seitdem gab es kaum Neubauten. Denn an der Strombörse können gemeinhin nur die Grenzkosten zurückgeholt werden, nicht aber die Investitionskosten etwa für den Bau der Kraftwerke: denn der Wettbewerb zwingt die Stromerzeuger zu niedrigen Preisen. Also steigen sie aus dem Handelsprozess erst aus, wenn es günstiger ist, das Kraftwerk wegen der Betriebskosten (etwa für Brennstoffe) abzuschalten. Durch langfristige Vertäge möchte man dieser Problematik begegnen. Doch wie viele fossile Kraftwerke brauchen wir eigentlich noch?
Trotzdem ist der Trend zur Langfristigkeit richtig. Wir erleben – auch wegen der Notwendigkeit, dem Klimawandel zu begegnen – bei den Erneuerbaren Energien eine neue Welle von staatlichen Eingriffen in den Energiemarkt. Langfristige Verträge sind notwendig und auch richtig, solange sie nicht den CO2-Zielen widersprechen.
Sie verringern nämlich die Volatilität von Zahlungsströmen und können so die Kapitalkosten senken. Investoren verlangen also geringere Risikoaufschläge, weil sie die Zahlungsströme besser vorhersagen können. Entscheidend ist, dass man nicht verschwenderisch mit diesen langfristigen Verträgen umgeht. Im Design von Kapazitätsmärkten gibt es große Unterschiede.
Denkbar sind zwei Optionen: Ein zentralisierter fokussierter Kapazitätsmarkt, der CO2-Effekte mit einbezieht und zwischen alten und neuen Kraftwerken unterscheidet (da wir keine neuen fossilen Kraftwerke brauchen, ginge es vor allem darum, bestehende Gaskraftwerke wieder rentabel zu machen, bis Speichertechnologien verfügbar sind).
Oder die Stromverbraucher akzeptieren das Fehlen von Preisobergrenzen an der Strombörse, sodass in Zeiten außerordentlicher Stromknappheit die Investittionskosten von den Stromerzeugern zurückgeholt werden können.
Renationalisierung macht Sinn
Es kann nicht sein, dass wir den Bau neuer Kohlekraftwerke mit Subventionen fördern. Deshalb müssen Kapazitätsmärkte – sollten sie eingeführt werden – grundsätzlich für Kohlekraftwerke geschlossen bleiben. Gleichzeitig sind der Ausbau der Grenzkuppelstellen zwischen Staaten, der Aufbau eines europäischen Stromnetzes und die Integration der Börsen wichtige Faktoren, um die staatliche Intervention zu beschränken.
Bei einer 100-prozentigen Integration des französischen und deutschen Strommarktes und der Einführung eines Kapazitätsmarktes in Frankreich hätte Deutschland einen Freifahrtschein: Es würde genauso von der verbesserten französischen Versorgungssicherheit profitieren wie Frankreich selbst, denn die Märkte wären vollständig integriert.
Je integrierter die Märkte also sind, desto weniger Anreiz gibt es für verschwenderische staatliche Eingriffe. Gleichzeitig gäbe es aber einen Anreiz dafür, die tatsächlich notwendigen Eingriffe zu tätigen. Deshalb stimmt es nicht, dass die Renationalisierung der Energiepolitik die europäischen Strommärkte zerstört. Langfristige Verträge sind vielmehr eine notwendige Ergänzung der Strommärkte. Die Strombörsen sorgen für den effizienten kurzfristigen Einsatz des bestehenden Kraftwerksparks, langfristige Verträge reizen Investitionen in neue Kraftwerke an. Mit ihrer Einführung kommt dem Staat die zentrale Rolle bei der Entscheidung zu, welche neuen Kraftwerke gebaut werden. Die Förderung von Kohlekraftwerken gehört natürlich nicht dazu. MARTIN SCHÖNBERG