Die Geschichten der Steine

NATURKUNDE Der Geopark „Nordisches Steinreich“ bietet Workshops und Exkursionen an. In Kiesgruben, Schulen und an der Küste entdecken Hobby-Geologen die Erdgeschichte

„Wir erzählen eine Erd- und Klimageschichte von Milliarden Jahren“

KERSTIN PFEIFFER, NORDISCHES STEINREICH

VON SEBASTIAN SCHULTEN

Noch steht das Jugendhaus „Seeblick“ direkt an der Steilküste der Lübecker Bucht in Brodten, einem Ortsteil von Travemünde. Wie lange dorthin noch Gruppenfahrten und Erlebniswochenenden der Sozialistischen Jugend Deutschlands „Die Falken“ organisiert werden können, ist jedoch fraglich. Denn das Haus der „Falken“ ist vom Absturz bedroht. Von anhaltendem Regen in den Wintermonaten und Hochwasserständen wird der Grund des Hauses langsam abgetragen. Massen an Sand, Lehm, Ton und Gestein brechen dann einfach weg.

Nur noch wenige Meter trennen den Gartenzaun von dem etwa sechs Meter tiefen Kliff. Die Region, in der das Haus steht, ist Teil des Geoparks „Nordisches Steinreich“. Einer von 19 Geoparks in Deutschland, der seit 2011 geologische Aufklärungsarbeit im Norden leistet, Projektwochen in Schulen veranstaltet oder Führungen und Spaziergänge zu geologisch interessanten Orten unternimmt. Einer davon ist das Brodtener Ufer. Die abbrechenden Teile des Kliffs tragen Steine in sich, die für Geologen besonders interessant sind. Sie liefern Erkenntnisse über die Beschaffenheit des Landes.

Das „Nordische Steinreich“ erstreckt sich entlang der Lübecker Bucht, nach Süden über Schwerin bis nach Lüneburg und Hamburg und zurück durch das Herzogtum Lauenburg nach Lübeck. „Uns geht es um Öffentlichkeitsarbeit, Natur- und Umweltbildung“, sagt Leiterin Kerstin Pfeiffer. Hauptsächlich in den Sommermonaten führt die Diplomgeologin interessierte Erwachsene und Schulgruppen entlang der Lübecker Steilküste und erklärt dabei, wie sich Ursprung, Alter und Material der Steine erkennen lassen.

Ein Hammer, eine Lupe und Salzsäure gehören dabei zur Grundausstattung eines jeden Geologen. Mit der Salzsäure wird nach dem Aufschlagen des Steines der so genannte Kalktest durchgeführt. Dieser sei wichtig für die Unterscheidung von Sediment- und Kristallsteinen.

Beim „Outdoor-Learning“ von Schulklassen lässt Kerstin Pfeiffer Proben entnehmen, Kliffs vermessen – und sie berichtet ihnen über die Küstendynamik der Region. Dabei lernen die Jugendlichen etwas darüber, wie Steine entstehen und woher sie kommen. „Wir erzählen eine Erd- und Klimageschichte von Milliarden Jahren, um aus der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen“, sagt Pfeiffer. Dabei könne Zeit jedoch nicht experimentell nachgestellt werden.

Für die Veranschaulichung hat sich Kerstin Pfeiffer etwas einfallen lassen: Anhand eines 60 Meter langen Bandmaßes zeigt sie, wie lange ein Stein des Brodtener Ufers bereits existiert und wie lange es Menschen auf der Erde gibt. Während das Leben der Menschen etwa einen Millimeter auf dem Bandmaß abbildet, seien es für manche Steine dort etwa 40 Meter. „Wir denken in Legislaturperioden oder Generationen, jedoch gilt es den Aspekt der Zeit zu erlernen“, sagt Pfeiffer. Ein Verständnis für die Lebensdauer eines Steines lasse sich anhand des Bandmaßes regelrecht „erlaufen“.

Geoparks haben laut Pfeiffers Imageproblem. Unter dem Begriff „Geopark“ würden sich viele einen Gesteinsgarten zum Angucken vorstellen, ergänzt durch dröge Erklärungen auf Schildern. „Wir wollen die Teilnehmer auf fantasiereiche Weise aus ihren Lebensbereichen abholen“, sagt Pfeiffer. Dorfkirchen seien häufig gute Beispiele. Die Bewohner kennen sie und denken, dass ihre Orgel oder der Altar „alt“ sei. Doch wenn ihnen erklärt werde, welchen Weg die Steine hinter sich haben, aus denen die Kirche erbaut wurde oder wie alt diese sind, staunten die Dorfbewohner häufig darüber.

Neben dem Angebot von Spaziergängen an der Küste, kooperieren einige Kieswerke im Landesinneren mit dem Nordischen Steinreich. Diese stellen ihren Betrieb für Exkursionen des Geoparks mit Kindern zur Verfügung. „Die Kieswerke sind natürlich sehr interessant für Kinder, da sie wie eine Mondlandschaft aussehen“, sagt Pfeiffer. „Dort können sie sich richtig austoben und lernen vielleicht sogar etwas dabei“.

Geoparks versuchen, etwas zu leisten, was in der Schule bisher keine größere Beachtung fand – erdgeschichtliche Erkenntnisse zu verbreiten, die von Geologen gewonnen wurden. „Die Geowissenschaften haben sich lange in einem Elfenbeinturm versteckt, aus dem wir nun heraustreten wollen“, sagt Pfeiffer.

Wie die Zukunft des Jugendhauses am Brodtener Ufer aussieht, ist absehbar. Das Kliff besteht aus sandigem und tonigem Material. Bei starker Nässe reduziert sich der Reibungswiderstand auf der Tonschicht und das darauf liegende Material beginnt zu rutschen. Etwa ein Meter pro Jahr bricht von dem Kliff ab. Die „Falken“ werden sich wohl auf die Suche nach einem neuen Vereinsheim machen müssen.