Entscheidung mit Zukunft

LITERATUR I Zum 20. Mal findet ab morgen der Göttinger Literaturherbst statt. Dabei kann man eine Menge lernen: Seit 2007 setzt das internationale Literatur-Festival verstärkt auf das wissenschaftliche Sachbuch

Auf spannende literarische Fiktion braucht auch diesmal niemand zu verzichten

VON ROBERT MATTHIES

Die Neandertaler und die Entwicklung des modernen Menschen, die Palliativmedizin und das Sterben, die Weltarmut und die Menschenrechte, der Hunger und die Ausplünderung der Erde, die Hirnforschung und das Bildungssystem. Umfassend gut informiert über aktuelle gesellschaftliche Debatten und wissenschaftliche Entwicklungen ist Christoph Reisner seit einigen Jahren spätestens im Herbst.

Immer mehr wissenschaftliche Sachbücher landen auf seinem Schreibtisch, seit sich der Schwerpunkt des Göttinger Literaturherbstes in den letzten Jahren zunehmend auf Sachbuch-Neuerscheinungen in Natur-, Kultur- und Sozialwissenschaften verlagert hat. Eine Entscheidung mit Zukunft, findet Reisner – und genau für solche hat er offensichtlich den richtigen Riecher.

Zukunftsentscheidungen

Dabei war die Zukunft eigentlich gar kein Thema, als Reisner vor 20 Jahren den ersten Literaturherbst ins Leben rief. Denn der war nur als einmalige PR-Maßnahme für eine Stadtzeitung geplant. Die dann aber einfach zu erfolgreich war: Max Goldt, Doris Dörrie, Gisbert Haefs, Eckard Henscheid, Joseph von Westphalen – illustre Gäste konnte Reisner direkt im Anschluss an die Frankfurter Buchmesse damals schon ins Groner Ballhaus locken. Im nächsten Jahr weiterzumachen, war da nur noch eine Frage der literarischen Gravitation. Und tatsächlich ist aus dem Werbe-Event in kürzester Zeit ein Festival-Schwergewicht geworden. Schon im zweiten Jahr zog Reisner in die Innenstadt um und lud die ersten internationalen Gäste ein. Eine Entscheidung mit Zukunft: Anglophone Literatur-Stars wie Douglas Coupland, Steven Fry oder Douglas Adams hatten ihren ersten Deutschland-Auftritt in Göttingen und trugen maßgeblich zum Renommee des Literaturherbstes bei.

Überhaupt war Reisner in vielen Dingen Vorreiter: früh setzte er auf Innovation in der Literaturvermittlung, veröffentlichte als Erster einen Lesungsmitschnitt auf CD, setzte als Erster digitale Untertitel für fremdsprachige Lesungen ein, bezog intermediale Verfahren ein. Entsprechend groß war die Enttäuschung, als der niedersächsische Wissenschaftsminister 2004 plötzlich mitteilte, die Landesförderung für das längst besucherstarke Lesefest von 25.000 Euro auf gerade mal 1.000 Euro zusammenzustreichen. Für Reisner aber kein Grund aufzugeben. Sondern Zukunftsentscheidungen zu treffen: 2007 wandelte er das Einzelunternehmen in eine GmbH um und führte neben der erfolgreichen Gegenwartsliteratur-Momentaufnahme die neue Wissenschaftsreihe ein.

Schwerpunktverschiebung

Und genau die ist es, die den Göttinger Literaturherbst zunehmend von der immer stärker werdenden Konkurrenz in Sachen Literatur-Event unterscheidet: Reisner traut seinem Publikum nicht nur Interesse an beliebten Bestseller-Autor_innen und bekannten Schauspieler_innen zu, sondern auch an Loop-Quantengravitation, Kognitiver Archäologie oder Spiegelneuronen. Denn auch sowas kann man allgemeinverständlich vermitteln: Seit zwei Jahren verleiht der Sender NDR Kultur dafür in Zusammenarbeit mit dem Göttinger Literaturherbst seinen Sachbuchpreis, in diesem Jahr stößt erstmals der von der Volkswagen-Stiftung ausgelobte Nachwuchs-Preis Opus Primum dazu.

Beide Preisträger_innen sind denn auch ein gutes Beispiel dafür, dass Wissenschaft nicht nur verständlich, sondern auch noch spannend erzählt werden kann: den Sachbuchpreis erhält dieses Jahr die Historikerin und Philosophin Bettina Stangneth, die mit „Eichmann vor Jerusalem“ das etablierte Bild des Shoah-Massenmörders als serviler Kleinbürger korrigiert, den Opus Primum bekommt der Göttinger Politologe Robert Lorenz für sein Buch „Protest der Physiker“ über die Kernphysiker hinter dem Anti-Atomwaffen-Manifest „Göttinger Erklärung“. Außerdem dieses Jahr spannend: unter anderem Thomas Pogge über ökonomische Gerechtigkeit, Paul Collier über globales Wachstum und verantwortungsvollen Umgang mit Ressourcen, Josef H. Reichholt über „Naturgeschichte(n)“ oder Jan Assmann über Unterweltreisen in Aufklärung und Romantik.

Beständigkeit

Auf spannende literarische Fiktion braucht dieses Jahr trotzdem niemand zu verzichten: Unter anderem präsentiert Katherine Pancol ihre Verwechslungsgeschichte „Die gelben Augen der Krokodile“, Feridun Zaimoglu liest aus seinem Ruhrgebiets-Roman „Ruß“, Paul Ingedaay aus seiner Versicherungs-Vertreter-Geschichte „Die romantischen Jahre“ und Heinz-Rudolf Kunze aus „Vor Gebrauch schütteln. Kein Roman“ über die Kunstszene, den Musikbetrieb und das Älterwerden. Und der obligatorische Isländer fehlt natürlich auch nicht: Hallgrímur Helgason stellt seinen aktuellen Roman „Eine Frau bei 1000°“ über die Lebensgeschichte der eigenwilligen Herbjörg vor, die vom Krebs zerfressen angesichts der Finanzkrise in Island ihre eigene Einäscherung plant.

■ Göttingen: Fr, 14. 10. bis So, 23. 10. im Alten Rathaus, Markt 9, in der Aula am Wilhelmsplatz, Wilhelmsplatz 1, im Deutschen Theater, Theaterplatz 11, und in der Paulinerkirche (Historisches Gebäude der SUB Göttingen), Papendiek 14; Infos und Programm: www.literaturherbst.de