: Disko gegen die Ausgangssperre
Was die Diktatur zerstörte: Die Ausstellung „Chile International“ im Kunstraum Kreuzberg schickt die Kunst auf Spurensuche
Weit oben in den Bergen wird die Grenze zwischen Argentinien und Chile von allerhöchster Stelle bewacht: Christo Redentor (Christus der Erlöser) hat hier eine Heimstatt. Fuhren früher unter seiner Aufsicht noch Züge durch diese unwirtliche Landschaft, gibt es inzwischen auch einen Autotunnel. Von dem ließ sich die chilenische Künstlerin Lotty Rosenfeld 1983 zu ihrer Aktion „Proposición para cruzar el tunel, cruzar la frontera“ („Vorschlag für das Durchqueren des Tunnels und das Passieren der Grenze“) inspirieren. Sie malte ein Kreuz auf den Asphalt, eine imaginäre Barriere, einen künstlerischen Grenzbalken, der deutlich machte, dass an anderen Orten in der Welt der Grenzverkehr nicht so einfach funktioniert wie hier zwischen Chile und Argentinien, zwei Ländern, die in den 80ern beide stramm antikommunistisch regiert wurden. Das Video, das Lotty Rosenfelds Aktion dokumentiert, zeigt sie denn auch folgerichtig an markanter Stelle in Berlin: Am Checkpoint Charlie, damals noch symbolträchtiger Ort für den Kalten Krieg, inzwischen touristische Anlaufstelle für die letzten Erinnerungen, die aus dem Tagen des Eisernen Vorhangs übrig geblieben sind.
„Proposición para cruzar el tunel, cruzar la frontera“ ist jetzt in der Ausstellung „Chile International: Museum Santiago – Die Stadt als Versprechen“ zu sehen, mit der Eva-Christina Meier und Andreas Fanizadeh im Kunstraum Kreuzberg daran erinnern, dass auf Chile einmal die Hoffnungen einer kritischen Weltöffentlichkeit gerichtet waren. Unter der Präsidentschaft von Salvador Allende versuchte das Land im südwestlichen Lateinamerika eine demokratische Wirtschaftspolitik zugunsten der breiten Bevölkerungsschichten. Dann aber riss 1973 in einem von der CIA gesteuerten Putsch die Armee unter General Pinochet nicht nur die Macht an sich, sondern setzte mit Gewalt auch einen wirtschaftsliberalen Kurs durch, auf den bald die Putschregime in Brasilien und Argentinien einschwenkten. In all diesen Ländern kam zur Anwendung, was Naomi Klein in ihrem neuen Buch „Die Schock-Strategie“ nennt: Umstürzlerische Gewalt von rechts brachte eine nicht minder gewalttätige Wirtschaftspolitik mit sich.
Dem steht bis heute die Erinnerung an den Aufbruch der frühen 70er gegenüber. Chile unter der Unidad Popular war auch ein Öffentlichkeitsexperiment, der Aufbruch wurde bewusst auch im Film begleitet – was danach kam, hinterließ weniger Spuren. Die Ausstellung gibt deswegen vor allem dem Einblick in die Zeit nach 1973: Sie sucht nach Spuren dessen, was damals verloren ging, und zeigt Beispiele dafür, wie sich mit künstlerischen Mitteln rekonstruieren lässt, was das Pinochet-Regime nicht dulden wollte.
Leonardo Portus hat in „5 Lugares de Santiago“ fünf Architekturmodelle hergestellt, die auf wichtige Orte verweisen, die zwischen 1970 und 1980 aus dem Stadtbild von Santiago de Chile verschwanden: ein öffentliches Krankenhaus zum Beispiel, das den Machthabern als zu selbstbewusstes Monument des Allgemeininteresses erschien. Auch eine Kirche ist dabei, die bald zu einer Diskothek wurde, wo sich die Profiteure des harten Wirtschaftskurses, vom neuen kommerziellen Geist umweht, amüsierten.
In einem angrenzenden Raum haben Guillermo Cifuentes und Enrique Ramírez für ihre Installation „Pista Central“ eine veritable Disko-Tanzfläche aufgebaut (dazu zwei Videoprojektionen an den Wänden), mit der sie an eine klandestine Funk-Bewegung im Arbeiterviertel Pedro Aguirre Cerda während der Zeit der Ausgangssperre erinnern. Die Musik war allein durch ihre Energie schon subversiv – unwillkürlich denkt man an die Installation „Funk Staden“ von Dias & Riedweg, einer der prominenteren Arbeiten auf dem langen Parcours der diesjährigen documenta. Im Jahr 2003 war „Pista Central“ in Santiago in der Galeria Metropolitana zu sehen, die ihre Quartiere bewusst in jenem Viertel aufgeschlagen hatte – neben dieser Galerie stellt die Ausstellung noch die ähnlich wichtige, ohne feste Adresse operierende Hoffman’s Haus ins Zentrum. An diesen beiden Orten manifestiert sich, was die künstlerische Öffentlichkeit in Chile in der Zeit der Transición bestimmt hat – der Übergang zu einem demokratischen System ist in der Auffassung von Meier und Fanizadeh allerdings keineswegs als abgeschlossen zu bezeichnen. Aber in der Auseinandersetzung dem Stadtbild gelingt es, die mehrfach veränderten Bedingungen für Kunstproduktion abzulesen.
Im letzten Raum der Ausstellung erzählt das Video „Out of Place“ von Claudia Aravena eine ganz besondere Geschichte von Schicksal und Identität: Die Künstlerin entstammt einer Familie, die 1951 aus Palästina nach Chile kam. Das zweifache „displacement“ wird in diesem 20-minütigen Film, der sich nicht nur im Titel ausdrücklich auf Edward Said bezieht, vor allem durch Fotografien dokumentiert. Hochzeitsbilder sind ja fast immer übervoll von kulturellen Zeichen, hier erzählen sie von einer Kindheit in einem Land, das vor 1973 eine offene Gesellschaft hatte und sich von deren Verlust nur allmählich erholt.BERT REBHANDL
Bis 28. 10. im Kunstraum Kreuzberg, Mariannenplatz 2, täglich 12–19 Uhr