: berliner szenen Fast wie bei Tiffany
Die Perlen des Zaren
Ich weiß nicht mehr, wer die Idee mit den Austern hatte. Wahrscheinlich war es wie immer: die kleine Küche, die Suppendämpfe, der Wodka, die Nacht. Und wir, die 30 im Nacken, mit Sehnsucht nach etwas, das man noch entdecken könnte. Die Mission: Austern-Treffen um 11 Uhr morgens im KaDeWe – etwas zum ersten Mal machen, wie Holly Golightly und Paul Varjak in „Frühstück bei Tiffany“. Die Austernbar öffnet erst um 12. Wir spazieren durch die Regalreihen, zwischen jahrhundertealtem Balsamico und tausend Pralinen hindurch. Überall weiß gestärkte Schürzen, wir sind underdressed. Um 12 bestellen wir an der Bar die „Perlen des Zaren“. Einer im Anzug kippt schon Champagner und Austern abwechselnd in sich hinein, mit offenem Hemdkragen.
Die Kellnerin ist etwa zehn Jahre jünger als wir, sie zwinkert mit den Augen, bringt uns den Weißwein und die Muscheln, erklärt uns genau, wie wir sie essen müssen: das Fleisch von der Schale lösen, mit Zitrone beträufeln, komplett in den Mund kippen, und dann, ganz wichtig: kauen, was das Zeug hält.
Gesagt, getan. Mein ganzer Mund füllt sich mit Meerwasser und etwas Glibbrigem, ist aber viel zu voll, als dass ich noch viel kauen könnte, im Mund scheint es auch noch aufzuquellen, ich schlucke eintausendmal, fühle mich grün im Gesicht und hinter den Ohren, schiebe mir Weißbrot in den Mund, Weißwein hinterher, aber der Geschmack nach dem Meer bleibt, heftet sich überall an mein Inneres. Nein, nichts hier ist wie bei Tiffany.
Draußen Sonnenstrahlen und Kühle, es riecht nach Meer, schmeckt nach Meer, das erste Mal in meinem Leben finde ich das nicht angenehm. Wir holen uns eine Currywurst und setzen uns auf eine Bank, zwischen Tauben und Touristen. ANNE KÖHLER