Der Erfinder des lebendigen Archivs

Henri Langlois gründete mit der Cinémathèque française in Paris das Vorbild für viele Filmarchive mit Kinobetrieb, auch für das Arsenal. Eine große Filmreihe erweist dem vor 30 Jahren Verstorbenen und seiner Vorstellung des Weltkinos ihren Respekt

VON EKKEHARD KNÖRER

Vor dem Mai 1968 gab es in Paris den April. Der französische Kulturminister André Malraux hatte beschlossen, Henri Langlois abzulösen, den Leiter der Cinémathèque française. Sofort brach ein Proteststurm los. Regisseure von Weltruf telegrafierten Protestnoten, die Heroen der Nouvelle Vague solidarisierten sich, Daniel Cohn-Bendit probte als Anführer der Kinobegeisterten schon mal die Revolution. Die Cinémathèque wurde geschlossen, vor ihren Toren versammelten sich Demonstranten.

François Truffaut zeigt zu Beginn seines 1968 entstandenen Films die verschlossenen Tore der Cinémathèque, Bernardo Bertolucci hat die Szenerie nachgestellt, viel später, in seinem Film „Die Träumer“. Der heftige Protest beseitigte jeden Zweifel: Henri Langlois war nicht der Vorsitzende einer Institution namens Cinémathèque, sondern diese Institution selbst. Schließlich wurde er – mit stark reduzierter finanzieller Unterstützung – wiedereingestellt und leitete die Kinemathek bis zu seinem Tod im Jahr 1977.

An der Seite des späteren Regisseurs Georges Franju und des Filmhistorikers Jean Mitry hatte Langlois die Cinémathèque im Jahr 1936 gegründet, als schlanker, junger Mann von 22 Jahren (sein Leibesumfang nahm die legendären Ausmaße im Gleichschritt mit dem Anwachsen der Institution und ihres Ruhms an). Von Anfang an verstand sich die Cinémathèque als Archiv und als Spielstätte gleichermaßen. Hervorgegangen war sie aus einem Filmclub, Langlois hatte die Kopien seit den Zwanzigern meist auf Flohmärkten erstanden oder vor der Vernichtung gerettet.

Mit Geschick und dank guter Beziehungen zum deutschen Reichsfilmarchiv lavierte Langlois seine Sammlung durch die schwierige Zeit der deutschen Besatzung. Nach dem Krieg war nicht zuletzt die berühmte Filmhistorikerin Lotte Eisner eine unermüdliche Hilfe bei der Akquisition von Kopien, aber auch allerlei Filmrequisiten, die später in Langlois’ viel gerühmtes, eigenhändig ausgestattetes und designtes Filmmuseum eingingen. Anders als die finanziellen und räumlichen Ressourcen der Cinémathèque kannte Langlois’ Aufnahmebereitschaft, sein obsessives Heranschaffen alles Greifbaren keine Grenzen.

Sein einziger kategorischer Imperativ war der, das Kino zu lieben, und zwar in all seinen Formen. Unermüdlich wiederholte er sein Credo, dass der Sammler dabei keine Unterschiede machen soll aus Demut vor der späteren Zeit, die Werte erkennen mag in Dingen, die die Gegenwart noch verachtet. Dieser Furie des Bewahrens war die Infrastruktur der Institution trotz stetig wachsender Mitarbeiterzahl kaum je gewachsen. Aus Perspektive der Bürokratie herrschte im Archiv der Cinémathèque ein großes Durcheinander, für die Rettung des Filmmaterials vor dem Verfall war kaum Geld da. Der Wunsch, in das Ganze eine größere Ordnung hineinzubringen, stand hinter den Entlassungsplänen des Jahres 1968.

Was die Regierung bei ihrer Entscheidung übersehen hatte, war der längst beinahe mythische Status des längst überlebensgroßen Henri Langlois. Es ist kaum übertrieben, wenn man behauptet, dass der Ruhm des französischen Nachkriegsfilms in erster Linie der Cinémathèque zu verdanken war. Die Regisseure der Nouvelle Vague sahen sich als Söhne von Henri Langlois, der ihnen mit dem Filmprogramm der Cinémathèque das Weltkino zugänglich gemacht und nahe gebracht hatte. Viele der Filme aus aller Welt – so etwa die Meisterwerke des japanischen Kinos – zeigte Langlois dabei notgedrungen auch ohne Untertitel. Dieser Not, wird oft gesagt, verdankt die Nouvelle Vague nicht zuletzt ihre Tugend des genauen Sinns für die Form, die mise en scène eines Films.

Abend für Abend versammelten sich die späteren Regisseure in den Fünfzigern um Henri Langlois’ Altar der Weltkinematografie. Rigoros bestand der Leiter der Cinémathèque darauf, jeden Film nur einmal zu zeigen und dann auf Jahre nicht wieder: eine Verknappung des Angebots, die zur Sucht der Cinephilie nicht wenig beitrug und den Abstand zu unserer Gegenwart einer weitestgehenden Verfügbarkeit großer Teile der Filmgeschichte vielleicht am deutlichsten markiert.

Mit Verspätung präsentiert das Berliner Arsenal nun eine Reihe zum siebzigjährigen Bestehen des Pariser Vorbilds. Es ist nicht zuletzt eine Hommage an den Mann und seine Lebenswerk, das, wie der Regisseur Nicholas Ray meinte, „vielleicht die größte Leistung eines Einzelnen in der Geschichte des Kinos“ darstellt.

Das Arsenal hat sieben Programme zusammengestellt, die im Oktober jeweils zweimal gezeigt werden. Programm unter www.fdk-berlin.de