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Archiv-Artikel

WIR:HIER

Kapitel 14

Nachdem Laura gegangen war, versteckte Matteo die Pläne in seiner Zelttasche. Er räumte die Gläser, aus denen sie Leitungswasser getrunken hatten, zurück, checkte, ob im Zimmer seines Cousins alles aussah wie zuvor, sperrte die Tür ab und schlenderte zur U-Bahn. An der Station Lichtenberg schlug er sich an die Stirn: die Blumen seiner Tante! Völlig vergessen! Er hechtete im letzten Augenblick aus dem Wagen.

Kurz blieb er am Bärenfenster vom Tierpark stehen und beobachtete die drei depressiv wirkenden Tiere mit viel zu wenig Platz. Bären sind doch Einzelgänger, oder? Wenn er dran denkt, findet er es nachher raus. Jetzt musste er sich beeilen, es war schon früher Nachmittag. Keine Ahnung, wann genau Tante Klara zurückkommen würde, und er wollte ihr auf keinen Fall in der Wohnung begegnen, in der eben dieses … WOW stattgefunden hatte.

Er trottete zurück, wässerte die Pflanzen und konnte beim Blick auf den Wohnzimmerteppich, auf dem sie vorhin gelegen hatten, ein Grinsen nicht unterdrücken.

Dass er jetzt sehr viel zu spät nach Hause kommen würde, war ihm ziemlich egal. Er fühlte sich einfach lässig. Auch als er kurz an seine Mutter und den Ärger, der vorprogrammiert war, dachte, blieb er cool. Was soll schon passieren? Schimpft sie halt, ich hör es mir an und gut ist. Ich muss mich nicht mehr rechtfertigen. Außerdem ist Sonntag. Die kann sich mal schön um ihr eigenes verkorkstes Leben kümmern, ein Trümmerhaufen ist das, aber sie: Immer davon ablenken. Sie sollte mich nur in Ruhe lassen. Sonst erzähl ich mal, was bei uns wirklich schiefläuft! Und dann geht es nicht um lächerliches Zuspätkommen, sondern um sie. Ach, scheiß drauf, da steh ich drüber. Ich zieh sowieso bald aus.

Später, als der Tag endlich vorbei und Matteo in Ruhe im Bett lag, Tür zu, Musik an, hätte er gerne mit Jason geskypt und ihm alles erzählt. Er hatte das Gefühl, sonst über kurz oder lang zu platzen. Er musste über Laura reden. Jason war leider nicht online und Matteo versuchte, darüber froh zu sein. Macht man doch nicht, mit ’ner Frau ins Bett gehen und sofort vor dem Freund damit anzugeben.

Er wollte Jason aber sowieso keine Einzelheiten anvertrauen. Höchstens, wie gut sie roch. Wenn er in seiner Armbeuge schnupperte, war da, wo ihr Kopf gelegen hatte, noch ein Rest von Duft. Unglaublich. Er erhoffte sich von Jason vielmehr Hilfe, um herauszufinden, was jetzt Sache war. Zu blöd, dass der nicht da war.

Dann überlegte er, ob er heute Mittag etwas falsch gemacht hatte. Vielleicht fühlte Laura sich im Nachhinein überrumpelt? Wie war das überhaupt passiert? Einfach so, oder? Und war das, was er dann getan hatte, sehr lächerlich gewesen? Er hätte sich irgendwie anders bewegen sollen, oder? Ob sie die zwei Monster-Pickel auf seinem Rücken bemerkt hatte? Aber sooft er die Szene auch durchkaute, er kam immer zum selben Schluss: Da war alles in Ordnung. Mehr als in Ordnung.

Es war nicht sein erstes Mal – GOTT SEI DANK –, doch so etwas war ihm noch nie passiert. Das heute hatte sich nur richtig und total einfach angefühlt. Mit Kaya und Anna war alles viel komplizierter gewesen. Verworrener. Und, ehrlich gesagt, ganz schön lange her. Seit Anna mit ihm Schluss gemacht hatte. Das bisschen betrunkene Fummeln danach mit Canan war nur, um über den Liebeskummer hinwegzukommen.

Matteo fühlte sich ziemlich gut, als er an seinem Schreibtisch saß und die geklauten Pläne ausbreitete. Ihm kam diese Tunnelsache bei genauerem Nachdenken allerdings extrem läppisch vor. Eigentlich war es ihm egal, ob Goldstück beim Senatswettbewerb mitmachte oder nicht. Er überlegte, morgen in der Schule die Band zusammenzutrommeln und einfach zuzustimmen. Er könnte sagen, er hätte nachgedacht und fände den Senatswettbewerb jetzt doch ganz okay. Die Mutprobe wäre damit ebenfalls erledigt.

Aber andererseits wollte er auf weitere Treffen, allein mit Laura, ungern verzichten. Die könnte außerdem seine überraschende Meinungsänderung auf heute Mittag schieben, und auch wenn sie da goldrichtig läge, würde das einen ziemlich blöden Eindruck hinterlassen.

Er entschied, bis Donnerstag, zur nächsten Probe, mit der Entscheidung zu warten, und beugte sich nun ernsthaft über die Pläne. Das Papier war vergilbt und voller Stockflecken. Es roch so muffig, als hätte es selbst jahrzehntelang unter der Erde gelegen. Matteo war kaum in der Lage, die spitze altdeutsche Schrift zu entziffern. War das Sütterlin? Nur die vielen Stempel auf den Karten waren in Blockbuchstaben beschriftet, doch Abkürzungen wie „Gst-Ph/Abt. IX“ sagten ihm nichts. Nach einer Viertelstunde hatte er zumindest genug verstanden, dass er drei der vier Pläne beiseitelegen konnte. Über einem aber stand: „Tunnelanlage Anhalter Bahnhof – Erweiterung Luftschutz – 1942“

Er starrte auf die dicken schwarzen Striche, die, einer eigentümlichen Ordnung folgend, das Blatt bedeckten. Andere Linien waren unterbrochen oder trafen auf massive schraffierte Rechtecke, an denen sie endeten. Er erkannte Straßennamen, Stettiner Straße, Wilhelmstraße, Hallesches Ufer, und dann entdeckte er auch die Windrose, die unten links gezeichnet war. Jetzt wusste er wenigstens, wo Norden war. Nicht dass das geholfen hätte. War das eine Bauzeichnung oder ein Bestandsplan? Matteo starrte lange, bis er zugeben musste: Er hatte keinen blassen Schimmer, wie man Pläne überhaupt liest.

Matteo fühlte sich ziemlich gut, als er an seinem Schreibtisch saß und die geklauten Pläne ausbreitete

■ Sarah Schmidt publizierte bereits diverse Bücher und ist in zahlreichen Anthologien vertreten. Ihr aktueller Roman „Eine Tonne für Frau Scholz“ ist imVerbrecher Verlag erschienen und in der Hotlist der 10 besten Bücher aus unabhängigen Verlagen2014. Für die taz schreibt sie den Fortsetzungsroman WIR:HIER www.sarah-schmidt.de