Ziemlich britisch

Erzählend und anschaulich, nüchtern und solide – so schreibt der Historiker Richard Evans die Geschichte des „Dritten Reichs“ in der Vorkriegszeit. Er beschreitet keine neuen Pfade, bietet dafür aber ein sehr lesenswertes Buch

VON MICHAEL WILDT

Sind Briten die besseren deutschen Historiker? Jedenfalls schreiben angelsächsische Autoren erfolgreiche Publikumsbücher, denkt man zum Beispiel jüngst an die Geschichte Preußens von Christopher Clarke, die Hitler-Biografie von Ian Kershaw oder eben die Bücher von Richard Evans. Von dem Professor für Moderne Geschichte an der Cambridge University stammt eine umfangreiche Untersuchung zur Todesstrafe in Europa oder die fast schon vergessene und immer noch lesenswerte Geschichte der Cholera in Hamburg Ende des 19. Jahrhunderts.

Während deutsche Historiker mittlerweile lieber Taschenbücher über den Nationalsozialismus schreiben, wagt sich Evans an eine große, umfassende, dreiteilige Darstellung, deren erster Teil „Der Aufstieg“, 750 Seiten dick, 2004 erschien und deren zweiter Teil „Diktatur“, zwei Bände mit insgesamt 1.084 Seiten, nun herausgekommen ist. Ein dritter Teil „Krieg“ wird demnächst folgen.

Ebenso wie bei Kershaws voluminöser Hitler-Biografie wird einem bei Evans die Zeit nicht lang. Denn britische Historiker haben sich offenbar die Fähigkeit bewahrt, Geschichte nicht allein zu erklären, sondern auch zu erzählen. Dabei gibt es keine falschen dramatischen Töne oder den vortäuschend intimen Blick des Kammerdieners. Der Stil bleibt nüchtern, faktenreich und doch packend – etwa wenn er die Röhm-Morde im Juni 1934 gespickt mit Erinnerungen von Zeugen des Geschehens schildert. Mitunter entstehen funkelnde Miniaturen wie die Darstellung der deutschen Beamtenschaft, die Evans mit biografischen Selbstzeugnissen und zum Teil bissigen Sottisen treffsicher charakterisiert. Glänzend ist sein Kapitel über die deutsche Musik.

Nicht chronologisch, sondern in sieben thematische Kapitel hat Evans die Zeit des NS-Regimes von 1933 bis 1939 geordnet. Hinter den anschaulichen Kapitelüberschriften wie Polizeistaat, Bekehrung der Seele, Aufbau der Volksgemeinschaft oder Auf der Suche nach der rassischen Utopie verbergen sich allerdings die gewohnten Themen: Staat, Kultur, Religion, Wirtschaft, Gesellschaft und die Verfolgung der Juden, wobei die Außenpolitik, wie etliche Rezensenten kritisch anmerkten, nicht mehr den prominenten Platz erhalten hat, den sie in früheren Darstellungen deutscher Historiker besaß.

Vielleicht liegt darin eine zweite Stärke angelsächsischer Historiker: dass sie auf eine sanfte Art konservativ sind und ihre Leser nicht durch Extravaganzen überfordern. Evans weicht meist nicht von den bislang beschrittenen Wegen zur Erklärung des Nationalsozialismus ab. Er betont erneut, dass das Regime keine statische oder monolithische Diktatur, sondern dynamisch und beweglich war. „Alles andere beherrschend war jedoch der Wille zu einem Krieg, in dem Hitler und die Nationalsozialisten das Mittel zu einer rassischen Neuordnung Mittel- und Osteuropas durch die Deutschen sahen.“

Rassismus und Krieg hatte auch schon 1996 Ludolf Herbst in seiner Darstellung des Nationalsozialismus herausgestellt, aber Evans gelingt es, diesen unbedingten Willen der NS-Führung auf allen gesellschaftlichen Ebenen bis hinunter in den Alltag sichtbar werden zu lassen. Es ist ausgesprochen schade, dass Evans offenkundig die glänzende Studie von Adam Tooze über die Ökonomie der Zerstörung nicht mehr hat berücksichtigen können. Sonst wäre sein Kapitel zur Wirtschaft noch um einiges eindrucksvoller geworden, denn mit Tooze hätte er zeigen können, wie total die Regimeführung die Volkswirtschaft auf den Krieg hin mobilisierte, alle Ressourcen rücksichtslos für die Aufrüstung einspannte. Wie ein Vabanque-Spieler vertraute das Regime allein darauf, die schweren volkswirtschaftlichen Verwerfungen nach einem gewonnenen Krieg durch Ausplünderung der besetzten Gebiete wieder auszugleichen.

Evans sanfter Konservatismus gibt sich auch zu erkennen, wenn er aus seiner Sympathie für die organisierte Arbeiterbewegung keinen Hehl macht und daran festhält, dass die Arbeiter resistent gegenüber dem Nationalsozialismus waren. „Zähmung des Proletariats“ ist bezeichnenderweise die Kapitelüberschrift. Diese Deutung ist jedoch durch die Forschungen in den letzten Jahren in Zweifel gezogen worden.

Für Evans bleibt der nationalsozialistische Terror zentral, und er kritisiert die These von Autoren wie Robert Gellately oder Gerhard Paul, die statt der allmächtigen Gestapo eher eine „Selbstüberwachung“ der deutschen Gesellschaft am Werke sehen. Man dürfe, so Evans, nicht die nationalsozialistische Propaganda für bare Münze nehmen, dass das Regime in jeder Hinsicht die Unterstützung der gesamten Bevölkerung genoss.

Unbestritten ist indes, dass Terror und Gewalt Wesensmerkmale des NS-Regimes gewesen sind. Es scheint sich die Auseinandersetzung vielmehr um Perspektive und Fragestellung zu drehen. Was in den letzten Jahren mehr und mehr in den Fokus der Forschung rückt, auch im Sinn eines theoretischen Paradigmenwechsels, ist der Blick auf die Partizipation der Bevölkerung am Regime, auf die tatsächliche Bindungskraft der „Volksgemeinschaft“. Die herkömmliche institutionell und strukturell geprägte Sicht auf politische Herrschaft, der auch Evans anhängt, wird abgelöst durch ein akteurs- und kommunikationsbezogenes Verständnis von Herrschaft als sozialer Praxis. Insofern folgt Evans eher alten, ausgetretenen Pfaden, wenn er statt Partizipation „Unterdrückung und Widerstand“ in den Mittelpunkt stellt.

Volksgemeinschaft bedeutete ja nicht terroristische Stillstellung der deutschen Gesellschaft oder gar Egalität, sondern rassistische Mobilisierung. Innerhalb dieses rassistischen Rahmens, der „Gemeinschaftsfremde“ radikal ausmerzte, kann das Einreißen traditionaler Standesgrenzen nicht unterschätzt werden. Es motivierte insbesondere junge Menschen, dass nicht Herkunft, sondern allein Leistung zählen sollte bis hin zu symbolischen Repräsentierungen der „Volksgemeinschaft“, in denen die Gleichwertigkeit der „Volksgenossen“ herausgestellt wurde. Wenn Evans etwa schreibt, dass sich auf dem Land, in den Dorfgemeinden nur wenig verändert habe, verkennt er die nachhaltigen sozialen Veränderungen durch die Landflucht der jungen Leute.

Wie schon Michael Burleigh vor ihm ordnet Evans den Antisemitismus in einen größeren rassistischen Zusammenhang ein, der die Verfolgung von Roma und Sinti, die Sterilisationspolitik wie die Euthanasie umfasst. Dadurch wird in der Tat die rassenbiologische Politik des Regimes sichtbar, in der die Juden die ersten und am unerbittlichsten zu eliminierenden „Volksfeinde“ darstellten. Das Ziel der nationalsozialistischen Politik jedoch bestand umfassender in der Herstellung einer „rassisch reinen“ Volksgemeinschaft, der auch Behinderte, Kranke, „Asoziale“ zum Opfer fielen. Zu Recht hebt Evans dabei den Anteil der wissenschaftlichen und bürokratischen Eliten hervor.

Mitunter sind ihm neuere Studien entgangen, wie zum Beispiel das Buch von Mario Dederichs über Reinhard Heydrich. Aber das schmälert nicht den kenntnisreichen und souveränen Zugriff Evans' auf das Material und die Fülle von Literatur zum Dritten Reich, mit der man mühelos ganze Bibliotheken bestücken könnte. Es ist ein im besten Sinn britisches Buch geworden, das erzählend und anschaulich, nüchtern und solide die Geschichte des Dritten Reichs in der Vorkriegszeit schildert. Da tritt mitunter die analytische, debattierende Dimension zurück, aber Evans wollte explizit kein wissenschaftliches Fachbuch schreiben, sondern Leserinnen und Leser erreichen, die, wie er im ersten Band formulierte, „nichts oder nur wenig über das Thema wissen und gerne mehr erfahren möchten“.

Während hierzulande im Getöse der Medienwelt schrille Thesen zum Nationalsozialismus wie von der angeblichen Atombombe Hitlers mit hoher Aufmerksamkeit belohnt werden, zeigen Historiker wie Richard Evans, wie populäre und zugleich seriöse Geschichtsbücher geschrieben werden können.

Richard J. Evans: „Das Dritte Reich. Diktatur“. 2 Bände, aus dem Englischen von Udo Rennert, DVA, München 2007, 1.084 Seiten, 69,90 Euro