Wer wagt, kann verlieren

Michael Lentz scheitert mit dem Roman „Pazifik Exil“ an seinem riesenhaften Anspruch: das Innenleben der deutschen Literatur-Exilgemeinde im Kalifornien der Vierziger abzubilden

VON MANUEL KARASEK

Allegorisch mutet der Beginn von Michael Lentz’ neuem Roman, „Pazifik Exil“, an. Da sieht man Nebelkrähen und Wildschweine in vereisten Landschaften, da ist vom baldigen Frühling die Rede. Schließlich sieht man, was ein wenig plötzlich daherkommt, die Ski fahrende Marta Feuchtwanger in den österreichischen Bergen. Es ist der Winter 1933, in der Skihütte wird sie wenig später von Hitlers Machtergreifung erfahren. Da hat man dreißig anstrengende Seiten hinter sich – und je weiter man dann vordringt, desto stärker wird einem bewusst, dass dieser Roman vor Ehrgeiz strotzt.

Um nicht weniger als die deutsche literarische Prominenz im kalifornischen Exil während des Zweiten Weltkrieges geht es, worauf der Titel ja anspielt. Da sind sie schließlich wieder versammelt, deren Schicksal man in unzähligen Sachbüchern, Dokumentationen, Spielfilmen verfolgt hat. Der erfolgsverwöhnte Thomas Mann, der ältere Bruder Heinrich mit seiner alkoholkranken Frau Nelly; der herzkranke Suchtraucher Franz Werfel, seine keifende Frau Alma. Brecht nörgelt, Schönberg ist enttäuscht, Feuchtwanger halbwegs zufrieden. So viel historische Personality, so viel hohen Geist zwischen zwei Buchdeckeln gab’s noch nie.

Das geht, obgleich der Roman gute Passagen hat, letztendlich schief. Schon in der ersten Szene wird das sichtbar. Familie Werfel und ein Teil der Manns flüchten über die Pyrenäen, die Wehrmacht im Nacken; und Alma berichtet ununterbrochen von ihren Irrfahrten durch das noch nicht besetzte Südfrankreich. Das ist zwar eine schöne Nummer, in deren Mittelpunkt eine neurotische Alma steht. Aber die Zeichnung einer Antisemitin, die paradoxerweise mit einem prominenten Autor jüdischer Herkunft zusammenlebt, offenbart sich hier eher als Karikatur.

Wie Pappe fühlen sich die Figuren an. Lentz reduziert ihre Charaktere auf einige markante Eigenschaften, ihren der Zeit geschuldeten Widersprüchlichkeiten begegnet er mit Mitteln der Satire, denn, egal ob Alma, Franz Werfel oder Heinrich Mann: alle verwandeln sich in Witzfiguren, gepeinigt von ihren Marotten und Lastern. Dafür kleidet er das Innenleben seiner prominenten Gestalten mit ungeheuer viel Wörtervolumen aus. Alle haben einen ähnlichen Tonfall, sprechen mit Lentz’ Zunge, es wirkt bemüht und ausgedacht.

Die Geballtheit des großkalibrigen Personals ist das eigentliche Problem. Die Gedankenwelt eines jeden zu erfassen und in Fiktionales umzuschmelzen ist eine nicht zu bewältigende Aufgabe. Natürlich geht es auch darum, wie Lentz diese „Großen“ sieht. Natürlich entsteht durchaus der Zauber einer gewagten Überschneidung, die das Resultat zweier unterschiedlicher Wahrnehmungen, zweier nicht korrespondierenden Weltbilder ist: Hier der literarische Großvater mit seinen aus der Politik stammenden unheilbaren Malaisen, dort der Enkel aus der alten Wohlstandsgesellschaft BRD.

So hat der Roman schreckliche Längen – überflüssige Parabelgeschichten, kalauernde und repetierende Passagen –, aber etwas fasziniert auch. Lentz’ Buch ist kein Roman, sondern eher eine Abfolge von Einzelszenen. Er arbeitet mit Formaten des inneren Monologs und der dialogbestimmten Szene. Dabei ist er durchaus komisch, und er verfügt über einen eigenen Ton. So erlebt man, wie Bertolt Brecht mit sich selbst hadert, seine Gedichte wollen ihm nicht gelingen. Thomas Mann schmeißt aufdringliche Journalisten aus seinem Haus. Arnold Schönberg, der darunter leidet, im amerikanischen Exil nichts zu gelten, richtet sich mitten in der Nacht im Bett auf und schreit mehrmals: „Ich bin Arnold Schönberg!“

In solchen Passagen scheint das eigentliche Thema des Romans durch. Durch die Künstleraugen wird die zweifelhafte Ordnung der Welt betrachtet. Es ist eine Optik, die durch die arg gestörten Karrieren gebrochen sein muss. Lentz’ Figuren werden geblendet von ihrer eigenen Unnachgiebigkeit, ihr Trotz lenkt sie unweigerlich in soziale Einbahnstraßen. Eine der Stärken des Romans ist es schließlich, wie Michael Lentz in der Annäherung an die prominenten Akteure diese zu entmythologisieren versteht. Dabei begreift er ihre inneren Muster.

Denn all diese prominenten Exildeutschen nehmen kein Bild von Deutschland nach Kalifornien mit. Sie schleppen vielmehr die Bedingungen des heimatlichen Literatur- und Kunstbetriebes hinter sich her. Sie alle sind verwurzelt in dem heimatlichen Apparat, seinen Zeitungen, Kontakten, Konzerten und den darin sich mühselig entwickelnden Reputationen. Jeder von ihnen hadert mit dem Schicksal, dass ein lächerlicher Mann wie Hitler mit seiner braunen Bande die deutsch-österreichische Kulturindustrie in so rascher Zeit zerschlagen konnte. Sie staunen über die eigene Ohnmacht – und verachten die Keimfreiheit des kulturellen Niemandslandes USA, in dem der Kommerz um seichte Hollywoodware regiert. Sie alle träumen von einem Land, das es nicht mehr gibt – und auch nicht mehr geben wird.

Gerade diese Darstellung ist Michael Lentz gelungen. Aber ein Empfinden des Mangels bleibt, weil es diesen 450 Seiten an Spannungsaufbau fehlt. Fast jede Szene steht für sich, nur das Thema „Exil“ schafft eine Verbindung. Die zwei Sterbeszenen um Werfel und Schönberg am Ende des Buches verdeutlichen das Problem. Sie sind lang und anstrengend, aber gleichzeitig gut gemacht. Wie sich Lentz da in die Situation der Sterbenden eingefühlt hat, wie er sein Material handwerklich im Griff hat: das ist gut geschrieben. Aber Ehrgeiz allein reicht nicht aus, um einen guten Roman zu schreiben.

Michael Lentz: „Pazifik Exil“. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2007, 461 Seiten, 19,90 Euro