SCHWER ZU SAGEN, WIE ALT DER MANN IST, DER MICH ANSPUCKT
: Mehltau einer merkwürdigen Geschichtsabgewandtheit

Die Leute vom Kurfürstendamm

VON ESTHER SLEVOGT

Statt zu antworten, spuckt der Mann mich an und wendet sich ab. Dabei wirft er mit großer Geste sein dunkelblondes, beinahe bis zu den Hüften reichendes und zu Rastalocken verfilztes Haar auf den Rücken. Man begegnet dieser hageren Gestalt mit dem bodenlangen Ledermantel häufig in der Gegend um den Kurfürstendamm.

Manchmal wirkt er wie aus einem Italowestern der 70er Jahre oder wie ein abgestürzter Popstar. Der Obdachloseste aller Obdachlosen, wenn man ihn an schlechteren Tagen sieht. Und doch hat der vor Dreck strotzende Mann mit dem Gesicht, das einmal sehr schön gewesen sein muss, eine fast messianische Aura. Manchmal sitzt er auf einer der Bänke am Joachimstaler Platz und trinkt. Die Stadtstreicher der Gegend rasten gern auf dem Platz hinter dem U-Bahn-Eingang mit der gläsernen Verkehrskanzel obendrauf, die über dem Platz schwebt wie das Führerhaus eines Baggers. Im Jahr 1955 wurde sie von Werner Düttmann, einem der Architekten der Westberliner Akademie der Künste, erbaut für eine Zukunft, die niemals kam. Ein Jahr nach dem Mauerbau wurde die Kanzel stillgelegt, weil die Verkehrsströme, die von hier aus gelenkt werden sollten, ausblieben.

Schwer zu sagen, wie alt der Mann ist, der mich anspuckt, als ich ihn frage, wer er ist. Er könnte Ende dreißig aber auch sechzig sein. Für meine sozialpornografischen Annäherungsversuche gibt er sich nicht her.

Recht hat er. Denn wie ich’s auch drehe: Ich bin das System, das ihn ausgespuckt hat – aus dem er, im günstigsten Fall, selbst ausgestiegen ist. Der, ob freiwillig oder nicht, auf der Kehrseite dessen lebt, wofür diese Straße als Schaufenster des Westens einmal ein Versprechen war. Und zwar in einem solchen Maß, dass noch vor drei Jahren in Warschau der Sohn von Warschauer Freunden, als er in Warschau aufs Gymnasium kam, dort einen zur Begrüßung von älteren Schülerjahrgängen in die Schulflure gebauten Parcours durch die polnische Nachkriegsgeschichte vorfand: eine Reise durch ein graues Bild des Mangels und des Verfalls, der Diktatur und der Unterdrückung. Am Ende des Geschichtsparcours schritt der Besucher durch einen goldenen Vorhang, hinter dem ein Transparent angebracht war, auf dem „Kurfürstendamm“ zu lesen war. Dann trat man in eine bunte, gegenwärtige Warenwelt mit Musik, wo Eltern ein Buffet für die Neuankömmlinge vorbereitet hatten und man sich an bunt geschmückten Tischen niederließ. Der Kurfürstendamm als Wille und Vorstellung, der nun auch in Warschau Wirklichkeit geworden war.

Wie enttäuscht war dieser Junge, als er dann vor ein paar Wochen zum ersten Mal leibhaftig diesen Sehnsuchtsboulevard betrat, wie klein erschien es ihm, wie unscheinbar. Warschau hat inzwischen viel gigantischere Shoppingmalls, höhere Häuser, glitzerndere Geschäfte. In der ehemaligen Parteizentrale der polnischen KP residiert nun der Luxusautomobilhersteller Ferrari und gibt sich als Sieger der Geschichte.

Dagegen fällt der Kurfürstendamm natürlich ab, mit seiner gediegenen Konsumentenfriedfertigkeit, seinen freundlichen Flaneuren und der fast diskreten Luxuskultur, die sich in den letzten Jahren hier entwickelt hat. Doch hat diese Straße ihr Gedächtnis nicht verloren, im Gegensatz zu vielen anderen der Stadt, deren Geschichte bereinigt, ihre Bevölkerung ausgetauscht wurde. Wer hier lebt, lebt hier oft schon seit Jahrzehnten. Lange lag über der Straße nach 1989 der Mehltau einer merkwürdigen Geschichtsabgewandtheit. Jetzt beginnt es auch hier zu boomen. Wachsen Hochhäuser in eine Zukunft hinein, von der der Stadtstreicher, der inzwischen von der Bank unter der Verkehrskanzel am U-Bahnhof Kurfürstendamm verschwunden ist, zu Recht nichts wissen will.