Eine Ära geht zu Ende

JAPANISCHES KINO Erstmals wird beim Forum keine einzige analoge Filmkopie mehr vorgeführt – für das Werk Kon Ichikawas ist das ein relevanter Verlust

Als Kon Ichikawa 2008 verstarb, wurde einer der letzten lebenden Vertreter des klassischen Zeitalters der Kinematografie Japans und zugleich einer ihrer wichtigsten Erneuerer begraben. Tatsächlich war der Regisseur, der zwei Jahre vor Akira Kurosawa geboren wurde und fünf Jahre vor Nagisa Oshima starb, eine Institution des japanischen Nachkriegskinos. Begonnen hatte er seine Karriere schon vor 1945: Bereits in den 1930ern fertigte er Zeichentrickfilme für das J.O.-Studio, seinen ersten Langfilm drehte er 1946, seinen letzten und laut IMDb 88. unglaubliche sechs Jahrzehnte später im Jahr 2006. Es ist ein wenig schade, dass das Forum aus dieser gewaltigen Filmografie lediglich drei Filme ausgewählt hat, die dann auch noch aus der bekanntesten Werkphase stammen: Die beiden Literaturverfilmungen „Enjo“ und „Ototo“ sowie die wagemutig stilisierte Historienfilmextravaganz „Yukinojo henge“ zählen zu jenen Werken, die Ichikawa zu einem der auf europäischen Festivals sichtbarsten Vertreter der japanischen Kinomoderne machten. Der populäre bis populistische Ichikawa, der bis ins hohe Alter einen guten Draht zum Geschmack seiner Landsleute hatte, kommt in der Auswahl nicht vor.

Erst recht schade ist, dass die Arbeiten Ichikawas nicht, wie noch letztes Jahr die Filme Noboru Nakamuras, als 35-mm-Kopien, sondern in digitalisierten Fassungen gezeigt werden. Damit geht eine Ära zu Ende, nicht nur was die langjährige, verdienstvolle Beschäftigung mit japanischer Filmgeschichte angeht: Tatsächlich wird im Rahmen des diesjährigen Forums erstmals keine einzige analoge Filmkopie mehr vorgeführt. Einerseits ist das (leider) folgerichtig angesichts der allgemeinen Tendenz im Bereich der Kinotechnik; andererseits jedoch spricht es nicht gerade für das historische Bewusstsein des Auswahlteams, dass der Abschied vom Zelluloidmaterial, der eigenen jahrzehntelangen Arbeitsgrundlage, im Programmheft mit keinem Wort erwähnt wird.

Lichtereignisse

Aber auch in der kleinen, digitalen Auswahl zeigt sich die Vielseitigkeit des begnadeten Handwerkers Ichikawa an. „Yukinojo henge“ ist besonders spektakulär – aber auch ein Film, der von der warmen, pulsierenden Materialität des Analogfilms besonders profitiert hätte: Mehr als um alles andere geht es in ihm um die Grundbedingungen des Mediums Film selbst, um Lichtereignisse, die in die vorgängige Dunkelheit des unbelichteten Filmstreifens eindringen, und um mit dickem Pinsel aufgetragene Farben, die alle Ansätze von filmischem Realismus überschwemmen. Keinerlei Mühe macht sich der Film, die ziemlich komplizierte, ursprünglich einem groschenheftartigen Zeitungsroman entnommene Erzählung um die Rachepläne eines Kabukischauspielers psychologisch oder auch nur handlungslogisch zu plausibilisieren.

In gewisser Weise zeugen alle drei Filme vom außerordentlichen Einfluss, den der Animationsfilm auf Ichikawas Schaffen hatte. Allerdings tun sie das auf sehr unterschiedliche Art und Weise: Wo „Yukinojo henge“ die grundlegende Instabilität und andauernde Entformung animierter Filmwelten simuliert, werden die Figuren in „Ototo“ und vor allem in „Enjo“ ganz im Gegenteil in grafische Muster, in unbarmherzig klare, wie mit dem Lineal gezogene Linien eingesperrt. Im düsteren „Enjo“, der auf einem Roman Mishima Yukios basiert, verzweifelt ein junger Ordensnovize an der geometrischen Perfektion eines buddhistischen Tempels – und an dessen Missverhältnis zu den weit weniger perfekten Begierden, die in seiner Psyche wüten.

Erst einmal der unauffälligste, weil am wenigsten formalistische, am Ende aber vielleicht der schönste der drei Ichikawa-Filme des Forumsprogramms ist „Ototo“: ein Melodram, das vom langsamen Zerbrechen einer Familie erzählt, dabei aber über niemanden urteilt und seine Figurenkonstellation konsequent in der Schwebe belässt. Zu Beginn scheint die Sache klar: Als die Tochter Gen von einem Spaziergang nach Hause zurückkehrt, betritt sie ein Gefängnis, über das die (christlich verblendete) Stiefmutter mit eiserner Knute herrscht, während der Vater sich hinter seinem Rechenschieber versteckt. Elterliche Paranoia, die Enge der japanischen Architektur und hämmernde Stakkatoklänge auf der Tonspur errichten ein Terrorregime, schnüren der jungen, selbstlos alle Hausarbeiten verrichtenden Frau fast buchstäblich die Luft ab. Ausgerechnet das schwarze Schaf der Familie verändert alles: Gens Bruder Hekiro ist ein Tunichtgut, seine hedonistische Asozialität erschüttert die familiäre Hierarchie nachhaltig, setzt schließlich das vorher durch eiserne Selbstdisziplin unterdrückte Sentiment frei. Und fließen die Tränen erst, kennen sie kein Halten mehr. LUKAS FOERSTER

■ „Enjo“: 7. 2.; „Ototo“: 8. 2. ; „Yukinojo henge“: 9. 2. – alle im Delphi Filmpalast um 14 Uhr