: Tod eines Proletariers
DDR Im Gefängnis von Cottbus verbrennt sich 1978 ein Häftling. Die Stasi versucht, den tragischen Tod von Werner Greifendorf geheim zu halten. Porträt eines vergessenen Rebellen
■ Das Gesetz: Der ungesetzliche Grenzübertritt war in der DDR nach § 213 des Strafgesetzbuches ein Verbrechen. Das Delikt wurde 1968 eingeführt. Die innerdeutsche Grenze 1952 wie der Bau der Mauer 1961 konnte die Ausreisebewegung nicht stoppen.
■ Die Strafe: Auf Republikflucht standen zwei Jahre Gefängnis, in „schweren Fällen“, die Gerichte in der Regel erkannten, zuletzt sogar acht. Wie DDR-Bürger, die einen Ausreiseantrag stellten, hatte man nach der Haft mit harten Schikanen zu rechnen. Bis 1989 kaufte Westdeutschland etwa 250.000 Ausreisewillige und 35.000 politische Gefangene frei.
VON STEFAN APPELIUS UND MICHAEL SONTHEIMER
Freiheit“, brüllte der Mann, der über den Hof für Freigänger im Cottbuser Gefängnis lief, „Freiheit!“ Er war in Flammen gehüllt, brannte lichterloh, wie eine Fackel. Der Häftling hob seine Arme und schrie: „Freiheit!“
Mehr als 60 Gefangene, die am Morgen des 19. Oktober 1978 ihren Freigang absolvierten, starrten auf Werner Greifendorf, auf den brennenden Mann. Vier Häftlinge warfen sich schließlich auf ihn. Mit ihren Jacken erstickten sie die Flammen. Greifendorf schrie „Mami“, dann brach er zusammen.
Wegen versuchter Republikflucht saß der 28 Jahre alte Lagerist aus Riesa im Cottbuser Gefängnis. Wollte er mit der Selbstverbrennung seine Abschiebung in die Bundesrepublik erzwingen? Auf jeden Fall wurde er sofort ins Cottbuser Bezirkskrankenhaus eingeliefert. Die Ärzte stellten Verbrennungen 1. bis 3. Grades fest, Zustand lebensbedrohlich. Drei Wochen später war Werner Greifendorf tot.
Das Ministerium für Staatssicherheit versuchte alles, seine verzweifelte Protestaktion geheim zu halten – mit Erfolg. Bis heute berühmt ist der Hallenser Pfarrer Oskar Brüsewitz, der mit seiner Selbstverbrennung 1976 gegen das DDR-System protestiert hatte. Aber kaum einer kennt Werner Greifendorf.
Erst seit vergangenem Jahr erinnert ein schmales Holzkreuz an ihn, im Hof des einstigen Zuchthauses Cottbus. Es steht ein paar Meter neben der Stelle, an der er seine mit Lackverdünner getränkte Jacke angezündet hatte. Sein Name auf dem Kreuz ist falsch geschrieben.
Werner Greifendorf ist eines der ungewürdigten Opfer der deutschen Teilung, des „antifaschistischen Schutzwalls“, der angeblich den friedliebenden Arbeiter- und Bauernstaat vor den revanchistischen Attacken der Imperialisten im Westen schützen sollte.
Greifendorf wollte die Freiheit haben, in die Bundesrepublik gehen zu können. Ein gutes Jahr vor seinem Tod hatte er vor Gericht erklärt: „Ich möchte frei sein. Ich möchte nicht bestimmt werden, was ich mache.“
Die Geschichte Werner Greifendorfs ist die Geschichte eines Rebellen. Er war im Grunde ein Punk. Er nahm das radikale, selbstzerstörerische Lebensgefühl der Punks aus dem Westen in der DDR vorweg. Greifendorf widersetzte sich mit aller Kraft dem System. Er wollte sich nicht brechen lassen – aber er wurde gebrochen.
Dabei stammte er aus der Klasse, auf die sich die Kommunisten in der DDR beriefen, aus der Arbeiterklasse. Er war ein Proletarier, ein Proletarier aus Sachsen.
Greifendorfs Vater war Glasbläser gewesen, seine Mutter Näherin. Doch die Eltern ließen sich früh scheiden, ein zweiter Mann blieb auch nicht lange bei der Mutter. Sie gab ihren Sohn in ein Heim, als er erst drei Jahre alt war.
In den 50er und 60er Jahren waren Heime in der DDR – wie in der Bundesrepublik – düstere Disziplinaranstalten: herzlos, autoritär, tendenziell gewalttätig. Greifendorf saß in Heimen in Glauchau, Oberwiesenthal und in Markersbach. Als er neun war, nahm ihn seine Mutter wieder zu Hause in Riesa auf.
Doch das ging, wie er später aussagte, nicht lange gut: „Aufgrund meines flegelhaften Verhaltens – ich blieb tagelang der Schule fern, übernachtete im Freien – erfolgte 1960 meine Einweisung in ein Spezialkinderheim in Waren/Müritz, später dann Scharfenstein.“
Um nicht wieder in einen solchen Kinder-Gulag zu kommen, hatte er sich in seinem Zimmer verbarrikadiert. Er wusste, warum. Später sprach er bei einer Vernehmung über seine Zeit in Heimen, wo „Kinder unter die kalte Dusche gestellt werden, bis sie in Ohnmacht fallen“.
Greifendorf wollte den Horror der Heime und die ganze DDR hinter sich lassen. Schließlich gab es da einen Onkel Hans, der angeblich im hessischen Eschwege in der BRD eine Gaststätte hatte. Zu ihm wollte er. Er unternahm seinen ersten Fluchtversuch, doch der scheiterte. Statt im Westen landete Greifendorf in Luckau, in einer Jugendhaftanstalt, für eineinhalb Jahre.
Als er wieder herauskam, war er ein ausgewachsener Rebell gegen den Realsozialismus. Er trug die Haare lang, nähte sich seine Schlaghosen selbst, hörte Rockmusik im West-Radio. Er war ein Bluesbreaker.
Immer wieder wurde er festgenommen, angeklagt und verurteilt, vor allem wegen „Diebstahls an sozialistischem Eigentum“ und wegen „Staatsverleumdung“. Doch so wenig wie draußen ließ er sich auch im Gefängnis nicht einschüchtern, er widersprach und widersetzte sich. Die Wärter verprügelten ihn; ein Meister im Zuchthaus Waldheim drohte ihm, ihn zu erschlagen.
Greifendorf trotzt allen Erziehungsmaßnahmen
Es kann niemanden verwundern, dass Greifendorf sich auf die Flucht in den Westen fixierte. Mit einem Binnenschiff wollte er es versuchen oder durch die Elbe schwimmen. Doch ihm fehlte das Geld, um überhaupt bis zum Ufer des Grenzflusses zu fahren.
Er stellte schließlich einen „Antrag zur ständigen Ausreise aus der DDR“, so wie es Hunderttausende von unzufriedenen DDR-Bürgern taten. Insgesamt sechs Ausreiseanträge reichte er in den Jahren 1975 und 1976 ein, aber er bekam keine Antwort.
„Er hat ganz offen darüber geredet, dass er über die Tschechoslowakei abhauen will“, erinnert sich Andreas Schoob, ein Bruder Greifendorfs, genauer gesagt ein Halbbruder. „Er hat sich von unserer Mutter verabschiedet.“
Schoob sitzt mit Fünf-Tage-Bart, in grauem Trainingsanzug und Socken, umgeben von moderner Unterhaltungselektronik in einem Neubau in Stauchitz bei Riesa. „Er war ein guter Bruder“, sagt der einstige Lok-Fahrer, der heute arbeitslos ist: „Er hat mir oft geholfen. Wenn mich einer verhauen hat, dann hat er den verhauen.“
Andreas Schoob war zehn Jahre jünger, aber Greifendorf spielte mit ihm Fußball oder sie gingen zusammen ins Stadion, zu Stahl Riesa. Und sein Bruder ließ ihn mit seinem Motorrad fahren, eine 175er Jawa. Eine Fahrerlaubnis hatten sie beide nicht.
Sein Bruder habe sich nichts sagen lassen. Von der Mutter nicht, von niemandem. „Er war immer schwer dagegen“, sagt Schoob. „Erich sollte man aufhängen“, habe er gesagt, wenn er etwas getrunken hatte. Solche Sprüche machte er in einer Kneipe, die viele Ausreißer besuchten und – viele Stasi-Spitzel.
Der sozialistische Staat wollte Greifendorf erziehen. Das Kreisgericht Riesa verhängte „staatliche Kontrollmaßnahmen“ gegen ihn, und der Leiter des Volkspolizei-Kreisamtes ordnete im März 1976 an, dass er jeden Montag auf der Polizeiwache zu erscheinen habe und einen Wechsel des Wohnortes und Arbeitsplatzes vorab melden müsse. Die Volkspolizei erließ zudem ein weitgehendes Gaststättenverbot gegen ihn. Das „Haus des Stahlwerks“, die Kneipe „Zur Traube“, der „Sachsenhof“ und andere Etablissements waren nun für Greifendorf tabu.
Seinen Antrag, doch wenigstens bei der Traube eine Ausnahme zu machen, lehnte die Polizei ab. Greifendorf hielt sich nicht an das Verbot. „Ich wollte auch mal mit meiner Freundin tanzen gehen“, sagte er.
Er wollte sich nicht anpassen, er machte Ärger. Nachdem er ein Eisernes Kreuz, einen alten Orden der Wehrmacht, um den Hals getragen hatte, wurde er dafür zu einer Geldstrafe von 400 Mark verurteilt.
Auf der Arbeit machte er gerne krank, drückte sich und ließ schon mal sozialistisches Eigentum mitgehen. Anfang Februar 1977 privatisierte er eine Flasche Kirsch-Whisky im Wert von 6,55 Mark. Beim Ausladen mit einem Kollegen nahm jeder eine Flasche und leerte sie. Anschließend wurde sie – in guter proletarischer Tradition – als Bruch deklariert.
Im März 1978 versucht er noch einmal, sich seinen großen Traum zu erfüllen, die Flucht in den Westen. Da er davon ausgeht, dass die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten zu sehr gesichert ist, versucht er einen Umweg.
Greifendorf besucht zunächst seine Schwester, die in Wernitzgrün im Vogtland lebt, nicht weit entfernt vom Dreiländereck, Tschechoslowakei, DDR, Bundesrepublik. Zwei Tage später fährt er mit dem Bus nach Bad Elster und geht zu Fuß über die Grenze in die CSSR. Mit dunklen Kleidern notdürftig getarnt wandert er durch den Wald gen Westen.
Pech hat Greifendorf insoweit, als ein Mann namens Zdenek Jedlicka, Unterfähnrich der tschechoslowakischen Grenztruppen, nach Dienstschluss seinen Hund genau dort dressiert, wo der Lagerist aus Riesa vorbeimarschiert. Der Tscheche verlangt den Ausweis des Deutschen, und als ihm der verdächtig vorkommt, durchsucht er ihn und lässt ihn anschließend von Kollegen festnehmen.
Greifendorf wird nach Dresden in die Untersuchungshaft überstellt. Einen Rechtsanwalt lehnt er ab, da er sich keinen leisten könne und ohnehin bei seiner Forderung nach „Aussiedelung aus der DDR“ bleiben werde. „Ich will nicht mein ganzes Leben hinter Gittern verbringen!“
Im Gefängnis verfasst er politische Erklärungen: „Ich bin kein Eigentum der DDR.“ Und: „Mir wurde in diesem Staat noch nie geholfen.“ Nie habe er „ein richtiges Elternhaus kennengelernt. Ständig von der Gesellschaft isoliert. Das sind die Gründe, warum ich heute so bin.“
Greifendorf lässt sich partout nicht einschüchtern. Es gehört großer Mut dazu, Stasi-Offizieren ins Gesicht zu sagen, dass das Gefängnis ein „bolschewistisches KZ“ sei und die DDR „russische Kolonie“, in der die Arbeiter „Sklaven von Honecker“ seien. Auch gegenüber Polizisten und Staatsanwälten nimmt er kein Blatt vor den Mund. Er werde so lange in den Westen zu fliehen versuchen, bis er aus der DDR ausgewiesen werde, sagt er trotzig seinen Verhörern.
Seine langen Leiden in Heimen haben ihn hart gemacht. In der DDR sei der Mensch nur ein „Kollektiv-Sklave“, der keine Freiheit habe, schimpft er. „Die DDR betrachte ich als Diktatur-Staat, in dem nur nach Befehlen gehandelt wird.“ Außerdem sei er der Meinung, „dass die Politik der DDR und aller anderer sozialistischer Staaten durch Moskau, gemeint ist die Sowjetregierung, bestimmt wird.“
Das waren nachvollziehbare Auffassungen; Greifendorf informiert sich gerne im West-Fernsehen und Radio. Er freut sich, wenn in denen Ostdeutsche, wie Wolf Biermann, die DDR hart kritisieren.
Das Kreisgericht Ost in Dresden tritt am 30. Juni 1978 unter dem Vorsitz der Richterin Krüger zusammen, um über die Anklage zu verhandeln. Greifendorf wird „ungesetzlicher Grenzübertritt u. a.“ vorgeworfen. Die Staatsanwaltschaft fordert zwei Jahre und acht Monate Haft. Greifendorf, der den Fluchtversuch gestanden hat, sagt in seinem Schlusswort: „Ich möchte nicht mehr in die DDR eingegliedert werden und bestehe auf meiner Ausreise in die BRD.“
Das Urteil lautet zwei Jahre, acht Monate, genau wie es die Staatsanwaltschaft gefordert hatte. Der Angeklagte sei, so die Begründung, „nicht gewillt, die sozialistische Gesetzlichkeit zu achten und die Normen des sozialistischen Zusammenlebens einzuhalten“.
Über zweieinhalb Jahre Gefängnis reichten der Richterin noch nicht. Sie entschied, dass Greifendorf nach der Strafverbüßung „ordnungsgemäß wiedereingegliedert“ werden und „unter straffer staatlicher Kontrolle“ stehen solle.
„Wie hart ich es habe und wie meine Nerven angegriffen sind, davon könnt Ihr Euch keinen Begriff machen“, schrieb Greifendorf im September 1977 an seine Mutter und Geschwister aus dem Gefängnis in Cottbus. Er wartete darauf, endlich in den Westen abgeschoben zu werden: „Stunden und Tage sind manchmal für mich wie eine Ewigkeit.“
Das Zuchthaus Cottbus, Baujahr 1860, ist seit 2011 eine Gedenkstätte. Das Büro ihrer Geschäftsführerin im Hafthaus I war früher eine Zelle. Sylvia Wähling schaut durch Gitter auf den verwaisten Hof. „Man gewöhnt sich an alles“, sagt sie.
„Cottbus war das Freikaufgefängnis der DDR“, berichtet Wähling. „Wer hier war, der stand schon mit einem Bein im Westen.“ Doch nicht alle in Cottbus einsitzenden Gefangenen wurden an die Bundesrepublik verkauft, Greifendorf gehörte zu dieser Minderheit.
Er musste für die Kamerafirma Pentacon arbeiten. Seine Zelle befand sich im ersten Stock, und davor lagerten jede Menge Materialien für die Renovierung des Gefängnisses. Unter anderem hochbrennbare Nitroverdünnung. Hier bediente sich Greifendorf. Mit einem Handtuch umhüllt brachte er eine Flasche Verdünner auf den Hof für Freigänger.
Liegt Werner wirklich im Sarg, fragt der Bruder
Es erscheine ihr unwahrscheinlich, dass er sich umbringen wollte, sagt die Gedenkstättenleiterin Wähling. Eher wollte Greifendorf auf sich aufmerksam machen, auf seinen Ausreiseantrag. Was er allerdings nicht wusste: Beim Verkauf ihrer Bürger an die Bundesrepublik galt für die Kommunisten eine Regel: DDR-Bürger, die sich bei Fluchtversuchen bleibende Verletzungen zugezogen hatten, ließ man nicht ausreisen.
Während des Gesprächs mit der Gedenkstättenleiterin hat sich kein einziger Besucher in das triste Gemäuer verirrt. Die Leiden der Häftlinge zu Zeiten der DDR interessieren 25 Jahre nach dem Fall der Mauer kaum mehr jemanden.
Im Herbst 1978 hingegen war das Interesse der Stasi an dem Tod Greifendorfs groß. Einer der Stellvertreter des Ministers und Stasi-Chef Erich Mielke wurden informiert.
Greifendorfs Bruder Andreas Schoob erinnert sich auch noch heute genau daran, wie eines Nachmittags zwei Herren in schwarzen Lederjacken in einem Wartburg mit Cottbuser Kennzeichen vorfuhren und er in ihrem Auftrag seine Mutter von der Arbeit holen musste. Die beiden Herren erklärten ihr, dass ihr Sohn Werner versucht habe, sich zu verbrennen.
Als die Mutter mit drei Söhnen auf eigene Faust nach Cottbus ins Krankenhaus fuhr, saß vor der Intensivstation ein Polizist mit einer Kalaschnikow. Schoob erzählt: „Wir haben nur durch eine Scheibe eine weiß-vermummte Gestalt gesehen. Wir wussten nicht, ob er das war. Da hätte jeder liegen können.“
Nicht nur die Familie, auch die Ärzte waren davon ausgegangen, dass Greifendorf trotz seiner schweren Verletzungen überleben werde. Vier Tage nach seiner Einlieferung nahmen die Ärzte eine Hauttransplantation vor. Sein Zustand war stabil. Doch dann kam ein Telegramm, dass er verstorben sei.
Das Grab von Greifendorf auf dem Trinitatisfriedhof in Riesa ist mit Tannenzweigen geschmückt. Wenn Andreas Schoob es besucht, kommen ihm unweigerlich die Erinnerungen an den Vormittag im November 1978, an dem sein Bruder hier zu Grabe getragen wurde.
Polizisten und Stasi-Spitzel überwachten die Hauptzufahrtsstraßen nach Riesa, um, wie sich heute in Stasi-Akten nachlesen lässt, „eine unkontrollierte Bewegung von ausländischen Journalisten nach Riesa zu verhindern.“ An jedem der drei Friedhofstore standen zwei Polizisten in Zivil. Sie hatten „als Angehörige der Friedhofsverwaltung im Interesse der Pietät und der Achtung vor dem Toten journalistische Aktivitäten“ zu unterbinden.
Unter dem Decknamen „Asche“ observierte die Staatssicherheit jede Bewegung der Trauergemeinde. Eine „Beobachtergruppe“ der Stasi-Bezirksverwaltung in Dresden fotografierte die Verwandten schon auf dem Weg von der Wohnung der Mutter zum Friedhof.
Den Observierten konnte so viel Aufmerksamkeit nicht entgehen. Sie waren misstrauisch. Lag Werner wirklich im Sarg? Schoob, damals 18 Jahre alt, versuchte ihn in der Aussegnungshalle zu öffnen, doch sofort fiel ihm dabei ein Stasi-Mann in den Arm. Schnell rollten Friedhofsarbeiter den Sarg zum Grab. „Ich war so sauer“, erinnert sich Schoob. „Nicht mal auf dem Friedhof konnten sie einen in Ruhe lassen.“
Als er ein zweites Mal versuchte, einen Blick in den Sarg zu werfen, kam es zu einer Rangelei mit einem der Stasi-Aufpasser. Schoob spuckte ihm ins Gesicht. Eine Schwester wäre in dem ganzen Tumult beinahe ins offene Grab gestürzt. Niemand hielt eine Rede. In dem Stasi-Bericht heißt es: „Die Trauergäste hinterließen einen ruhigen und besonnen Eindruck.“
Die Geheimdienstmitarbeiter, die sich als „Schild und Schwert der Partei“ verstanden, erreichten ihr Ziel. Erst zwei Monate nach dem Tod Greifendorfs veröffentlichten zwei Zeitungen des Springer-Verlags kleine Meldungen über die versuchte Selbstverbrennung des Gefangenen. Von Greifendorfs Tod hatten sie nicht erfahren; den meldeten sie erst in einer kleinen Notiz ein Jahr später.
Wenn Andreas Schoob heute am Grab steht, spürt man seine tiefe Trauer. „Es wäre schön, wenn er da wäre“, sagt er. Er hat ein Foto seines großen Bruders im Wohnzimmer stehen. Und ganz sicher ist er nicht, dass Werner wirklich tot ist. Vielleicht hat ihn die Stasi damals in den Westen geschickt, als Spion? Vielleicht klingelt er doch eines Tages an der Tür. Und nimmt seinen kleinen Bruder in den Arm.
■ Stefan Appelius, 51, Professor für Politikwissenschaft, lebt als Publizist in Berlin und lehrt an den Universitäten Oldenburg und Potsdam
■ Michael Sontheimer, 59, studierte Geschichte, war Mitgründer der taz und schreibt seit 20 Jahren für das Magazin Der Spiegel