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Archiv-Artikel

Keine Ahnung von der Realität

Bloß keine Gewissheiten zurücklassen: Von dem Nobelpreisträger J. M. Coetzee ist auf Englisch ein neuer Band erschienen. „Diary of a Bad Year“ ist in der Form radikaler als alle früheren Bücher

VON ANNE HAEMING

Ein Foto, zwei Sergeants grinsen in die Kamera, einer stützt sich auf den Schädel vor sich, der andere hält zwei abgetrennte Männerköpfe an den Haaren in die Luft. Dann: Gefangene, an den Knöcheln aneinandergekettet, schwarze Kapuzen verdecken ihre Gesichter, um sie herum Aufpasser in Olivgrün; sie ringen die Gefangenen zu Boden, schieben Knüppel in ihren After.

Es sind Kriegstrophäen – Verweise auf zwei amerikanische Kriege. Das Foto aus dem Vietnamkrieg ist eines unter mehreren Folterdokumenten in „Dusklands“, dem Debütroman von J. M. Coetzee aus dem Jahr 1974. Die zweite Passage findet sich in seinem soeben auf Englisch erschienen Buch „Diary of a Bad Year“. Sie ist darin Teil eines Kurzessays, dessen Autor gerade darlegt, wie ein Ballett namens „Guantanamo, Guantanamo!“ inszeniert werden könnte. Somit ist klar: Das neue Werk des südafrikanischen Literaturnobelpreisträgers ist genauso wenig eindeutig Roman, wie es Essayband oder Autobiografie ist. Coetzee dekonstruiert diese Genres, er gibt von allem ein bisschen. Und das gewitzter denn je.

Das Auffallendste: Er zerteilt die Seiten. Oben finden sich 55 Aufsätze eines Autors namens C., manche nur ein paar Zeilen lang. Sie heißen bedeutungsschwanger „Über die Ursprünge des Staates“ oder „Über Al Qaida“. Direkt darunter, durch Linien abgetrennt, gibt Coetzee zwei weiteren Erzählstimmen Raum, sodass mal zwei, meist aber drei Textflüsse von Seite zu Seite weiter vordringen. Die beiden Ich-Erzähler sind der Essayschreiber C. und seine Tippse Anya – übrigens das erste Mal, dass eine junge Frau eine derart eigene Stimme in Coetzees Texten bekommt.

Anya kommentiert die gesellschaftspolitischen Essays ihres Auftraggebers, die sie transkribiert – und die manchmal schon zehn Seiten zuvor im oberen Teil der Seite zu lesen waren. „Schreiben Sie doch über Cricket“, schlägt sie vor. „Schreiben Sie über die Vögel.“ Alles, findet sie, wäre lesenswerter als der politische Kram. Etwa C.s Erklärungen über Antiterrorgesetze, die irrational agierenden Feinden Paroli bieten wollen, aber letztlich nur das Privatleben aushebelten. Oder die These, dass Demokratie letztlich selbst totalitär sei. Anya kann es nicht mehr hören, auf alle Fälle hat C. ihrer Meinung nach keine Ahnung von der Realität. Während er in den ersten 31 Kurzessays noch großsprecherisch Weltpolitik und Weltkultur abhandelt, beginnt er in seiner Erzählerspalte, doch über Anyas Kritik nachzudenken. Im zweiten Teil der Aufsätze verschiebt sich die Priorität zugunsten der Vögel im Park.

Neben den fokussierten Essays also Romanhaftes: zum einen die etwas spröde Annäherung von Anya und dem parkinsonkranken Alten, den alle „Señor C“ nennen – in der Annahme, er sei ein kolumbianischer Schriftsteller im Exil; zum anderen die Geschichte von Anya und ihrem Freund Alan, einem Investmentbanker, der C.s Thesen regelmäßig zerpflückt. Alle drei wohnen im gleichen Apartmentblock in Sydney.

Indem Coetzee mit der Dreiteilung den gewohnten Lesefluss auf so plakative Weise unterminiert, wird deutlich: Hier versucht einer mit aller Macht etwas Neues. Seine Seitendekonstruktion wirkt zwar reichlich retropostmodern, und doch: Betrachtet man Coetzees Werksammlung, ist sein neues Unterfangen von bestechender Logik. „Zeitlupe“, sein vorangegangener Roman, wirkt im Vergleich wie eine gelangweilte Fingerübung. „Diary of a Bad Year“ führt Coetzees Leitmotive zusammen: Sein Trieb, keine Gewissheiten zurückzulassen, schlägt sich nun eben nicht mehr nur in inhaltlichen Volten nieder, sondern in der Darstellung der Texte.

Nein, Coetzee will sich auf nichts festnageln lassen. Schon während der Zeit der Apartheid in Südafrika brachte es ihm Schelte ein, nicht eindeutig genug gegen das Apartheidsystem anzuschreiben. Da passen auch C.s Debatten mit dem deutschen Verleger ins Bild, der die Essaysammlung unter dem deutschen Titel „Meinungen“ herausgeben will, vielleicht auch „Ansichten“, sicher sei das noch nicht. „Die Meinungen, die ich gestern hatte, teile ich heute nicht zwingend“, sinniert C. „Ansichten dagegen sind fester, durchdachter.“ Coetzee hat sich den Spaß nicht nehmen lassen und den ersten Teil von „Diary of a Bad Year“ mit „Strong Opinions“, Überzeugungen, überschrieben.

Konsequent spielt J. M. Coetzee die Autorität des Autors aus – nur um sie sogleich wieder zu kassieren. So trägt C. auffällige Züge des Autors: erfolgreicher südafrikanischer Schriftsteller, ausgewandert nach Australien, Vegetarier, eines seiner Bücher heißt „Waiting for the Barbarians“. Seine Vorliebe für Autorenspiele kennt man ja bereits von seiner Alter-Ego-Figur Elizabeth Costello aus Dankesreden oder Büchern. Überhaupt: Dem, was als authentisch daherkommt, konnte man bei Coetzee noch nie trauen, egal ob Briefe, Tagebücher oder Texte mit Fußnoten. In „Diary“ greift Coetzee nun geballt auf diese dokumentarisch anmutenden Formate zurück. „Strong Opinions“ verlangen nun mal nach handfesten Gründen. Nach Beweisen, so eindeutig wie jene für die Biowaffen-Trucks, die Colin Powell vor der UN als Indiz für die Produktion von Massenvernichtungswaffen im Irak anführte. Derartige scheinbare Sicherheiten erschüttert Coetzee von Grund auf.

J. M. Coetzee: „Diary of a Bad Year“. Harvill Secker, London 2007, 304 Seiten, 16,99 £. Auf Deutsch bei Fischer im Frühjahr 2008