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Archiv-Artikel

Kalter Krieg auf einer Insel

STASI-GRUSEL Vom unsicheren Zugriff auf die eigene Ost-Biografie will Antje Rávic Strubels Roman „Sturz der Tage in die Nacht“ erzählen – bleibt aber leider über weite Strecken in Geraune stecken

Nackt baden, Dosenbier auf dem Campingplatz, schlaflose Nächte unter dem Mittsommerhimmel. Die Monate, die Erik an der schwedischen Ostsee verbringt, könnten eine sorglose Zeit sein, wie sie viele junge Männer zwischen Zivildienst und Uni-Karriere erleben. Könnten – wäre da nicht dieser zweifelnde Ton, dieses Misstrauen gegenüber der Erinnerung und nacherzählter Wirklichkeit, die von Anfang an schwer über dem Roman liegt. Es beginnt auf diesem Wasser. Es hatte begonnen. Es hätte beginnen können. „Sturz der Tage in die Nacht“, Antje Rávic Strubels neuer Roman, beginnt wie eine Versuchsanordnung. Der man anfangs gern folgt.

Wie Strubel aus der grauverhangenen Ostseeluft nach und nach Eriks Ankunft auf der Vogelschutzinsel Stora Karlsö und seine Begegnung mit der 16 Jahre älteren Ornithologin Inez Rauter herausschält und das Tableau langsam um biografische Stränge und andere Personen erweitert, das hat einen konstruktivistischen Reiz. Der um dichte atmosphärische Schilderungen von Ginsterbüschen auf Kalksteinfelsen, brütende Vögel und erste zwischenmenschliche Annäherungen ergänzt wird. Trotz des eingebauten Abstandshalters – vielleicht war es so, vielleicht am Ende ganz anders – lässt man sich bereitwillig in diese Geschichte fallen. So wie sich Inez Rauters Forschungsobjekte, die Lummen und Tordalken, im Abwind von den Klippen stürzen.

Im Netz der Vergangenheit

Spätestens als der ominöse Reiner Feldberg anfängt, auf der Insel herumzuschnüffeln, wird klar, dass das Inselleben der Vogelforscherin eine Flucht ist. Vor einer DDR-Vergangenheit, die sie in Gestalt des 16 Jahre jüngeren blonden Erik wieder einholt.

Jahrzehnte nach der deutschen Einheit vollzieht sich der Kalte Krieg auf dieser schwedischen Insel. Was aussah wie ein Urlaubsflirt, entpuppt sich als Inzest. Ungefähr in der Mitte des Buches verdichtet sich der Subtext aus Hinweisen zur Gewissheit. Im Netz der Vergangenheit gefangen sitzen eine minderjährige, vom Stasi-Freund sitzen gelassene Schwangere und ihr bei einer anderen aufgewachsener Sohn. Man beobachtet die beiden Figuren, wie sie in ein archaisches Dilemma schlittern, um Verstand und Würde ringen, während im Hintergrund ein Stasi-Psychopath und ein skrupelloser Lokalpolitiker die Fäden ziehen. Und fühlt – ja, was eigentlich?

Spielfilmhafte DDR-Szenen

Zumindest kein tiefes Grauen. Es überwiegt Erleichterung. Darüber, dass aus dem überpräsenten Raunen endlich Gewissheit geworden ist. Auch wenn nichts gut ist: Erik weiß nun, wer seine leibliche Mutter ist. Und Inez Rauter weiß, dass sie dem Reiner Feldberg, der sie als Mädchen auf dem oberen Teil einer Spielplatzwippe „verhungern“ ließ, niemals entkommen wird. Ebenso viele Dinge bleiben aber auch im Dunkeln. Die Motivation von Reiner Feldberg, die Rolle des Kindsvaters wider Willen. Und überhaupt so einiges, das in eindringlichen, geradezu spielfilmhaften DDR-Szenen abgespielt, aber nicht zu Ende geführt wird.

Was geschah damals, in Reiner Feldbergs Datsche, als die schwangere Inez sich hinter dem Komposthaufen übergab, während ihr Angebeteter Felix Ton vor ihren Augen einer anderen den Rock hochschob. Warum bekam die nach dem Verbleib ihres Sohnes Fahndende auch nach der Wende keine Akten zu Gesicht? Vor lauter Agenten droht man irgendwann die Figuren aus den Augen zu verlieren. Noch benebelt von der Inzestnachricht, nimmt man alle weiteren Enthüllungen und Rätsel beinahe achselzuckend hin. Nur die wunderbare Beschreibung der Ostseelandschaft – Markenzeichen der Strubel’schen Erzählkraft – lässt einen bis zum Schluss dranbleiben an diesem Roman. Mit dem es ein bisschen so ist wie mit der Ostsee: „Im Grunde ist sie nur ein See, aber sie öffnet sich dem Atlantik weit genug, um den Anschein eines Ozeans zu erwecken.“ NINA APIN

Antje Rávic Strubel: „Sturz der Tage in die Nacht“. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011, 438 Seiten, 19,95 Euro