: Mit pädagogischer Absicht
FEINDBILDER Umberto Eco lässt in dem Roman „Der Friedhof in Prag“ Fälschungen, Weltverschwörungen und Amnesie Urständ feiern
VON CHRISTIANE PÖHLMANN
Erst kommt das Fressen – und dann gar nichts. Das gilt zumindest für Simon Simonini, geboren 1830 im Piemont, Mörder, Fälscher, Spitzel, Agent Provocateur, Misanthrop und eben Gourmet. Das gilt jedoch nicht für Umberto Eco, geboren 1932 in Allessandria im Piemont, Romancier und Semiotiker, für den vor dem Fressen ganz entschieden die Moral kommt. Mit dem „Friedhof in Prag“, so der Italiener, habe er zum ersten Mal einen Roman mit pädagogischer Absicht geschrieben, in dem er die Dummheit anprangern und zum Zweifel anhalten wolle.
Dafür muss sein Protagonist Simonini einen Gedächtnisverlust erleiden, um sich in Tagebucheinträgen wiederzufinden, indem er sich erinnert, wie er abgeschieden beim Großvater, einem eingefleischten Antisemiten, aufwuchs, von jesuitischen Hauslehrern erzogen. Das Jurastudium brachte ihn erstmals in Kontakt mit Gleichaltrigen, sein berufliches Leben begann er bei einem Fälscher und Notar. Kaum hatte er diesen um Kanzlei und Leben gebracht, legte er eine fulminante Karriere als Fälscher hin, die ihn von Italien nach Paris führte. Danach wurde er von einem Geheimdienst zum nächsten weitergereicht. Sei es die Einigung Italiens, sei es 1870/71 oder die Dreyfus-Affäre – stets diente er den jeweiligen Machthabern als probates Werkzeug.
Mit seinem ausgezeichneten Gespür dafür, aus welcher Richtung der Wind weht, scheffelt er jede Menge Geld, rettet aber vor allem und fast schon räuberpistolenartig immer wieder die eigene Haut. Ein großes Licht ist er nicht, ihm fehlt jedes Vermögen zur Selbstreflexion und zur eigenen kreativen Tätigkeit. Er ist Katalysator, nie Motor. Was er kann – und zwar hervorragend –, ist, seinen Auftraggebern aktuelle Strömungen mundgerecht in gefälschten Happen zu kredenzen. Könnte sich ein Geheimdienst mehr wünschen?
Genau da beginnt das Problem dieses Romans. Der verliert sich nämlich zwischen zwei Ansätzen. Zum einen geht er gesellschaftlichen Strukturen auf den Grund, zum anderen spürt er der Disposition eines Fälschers nach, der ein absoluter Durchschnittstyp ist – und damit Repräsentant aller gängigen Vorurteile.
Der Staat und die Dienste brauchen ein schlichtes Feindbild. „Man darf niemals eine Gefahr mit tausend Gesichtern an die Wand malen, die Gefahr muss eindeutig klar und erkennbar sein, ein einziges Gesicht haben, damit die Leute wissen, woran sie sind, sonst verlaufen sie sich in alle Richtungen.“ Ein simples Rezept. Erschreckend ist und bleibt, wie gern diese Speise geschluckt wird, das hat die Geschichte bewiesen, von der Konstantinischen Schenkung bis hin zu den Protokollen der Weisen von Zion. Weit erschreckender – und frustrierender – ist jedoch, wie Eco diese Erkenntnis vorkaut. An einen Klassiker in diesem Genre wie Graham Greenes „Unser Mann in Havanna“ reicht der „Friedhof“ nicht heran.
Auch der individuelle Aspekt mutet eher küchenpsychologisch an. „Wenn man mit etwas scheitert, sucht man nach jemandem, dem man die eigene Unfähigkeit in die Schuhe schieben kann.“ So verlegt sich Simonini wie viele andere seines Metiers darauf, Juden als Drahtzieher einer Weltverschwörung hinzustellen, „weil er ahnte, dass es sich auszahlen würde“. Er braut die Geschichte eines konspirativen Treffens auf dem Prager Friedhof zusammen, das zunächst noch Jesuiten abhalten, später Rabbiner, greift dabei aber ausschließlich auf zirkulierende Versatzstücke zurück. Am Ende verkauft er das Material an die russische Ochrana, die es als besagte Protokolle serviert.
Um die Entstehung des Machwerks zu beleuchten, zitiert Eco viel, was ihm prompt einen Antisemitismus-Vorwurf im katholischen Zentralorgan L’Osservatore Romano eintrug. Das ist absurd. Es erfordert viel Mut- und Böswilligkeit bei der Lektüre, um zu übersehen, wie Simonini seinen Hass aus der Luft greift und sich in Widersprüchen à la Juden seien „erektionsfreudiger“, Juden hätten „lahme Lenden“ verfängt. Wer diese Auslassungen für bare Münze nimmt, stellt sich nur das Armutszeugnis aus, auf das Eco seinen Finger legt bei allen, auch bei der Kirche: „Und bitte, wie hätte sich denn die Kirche fast zweitausend Jahre lang halten können, wenn es nicht diese allgemeine Leichtgläubigkeit gäbe?“ Nein, Eco führt Vorurteile klar als willkürliche „Übereinkünfte“ vor. Moralisch ist ihm kein Vorwurf zu machen, literarisch schon. Da hätte er sich entscheiden müssen, ob er ein Sozio- oder Psychogramm entwirft, vor allem aber, ob er tatsächlich an eine mündige Leserschaft glaubt, bei der er darauf verzichten kann, dass die Erzählerfigur immer wieder Schlussfolgerungen auftischt.
Und ein Letztes: Mit seinem sechsten Roman führt Eco gleichsam im Widerspruchsbeweis vor Augen, dass er kein One-Book-Author und nicht ständig auf den „Namen der Rose“ zu reduzieren ist. Gerade weil der „Friedhof“ Gedächtnisverlust und Verschwörungstheorien variiert, unterstreicht er im Kontrast, wie eindringlich Eco diese Themen im „Focaultschen Pendel“ und der „Flamme der Königin Loana“ abgehandelt hat. Beides, nebenbei bemerkt, Romane, die im 20. Jahrhundert angesiedelt sind. Werkgeschichtlich ist der „Friedhof“ damit interessant, als eigenständiger Roman jedoch schwer verdaulich.
■ Umberto Eco: „Der Friedhof in Prag“. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. Hanser, München 2011, 528 Seiten, 26 Euro