Galionsfiguren von genialer Garstigkeit

Das Großprojekt „Von Häfen, Schiffen und viel Meer“ führt „Blaumeier“ zu neuen Ufern – und lettischen Partnern

Es ist das intensivste Kunstprojekt in der Geschichte des Blaumeier-Ateliers: Für „Von Häfen, Schiffen und viel Meer“ haben sich 19 MalerInnen zwei Jahre lang immer wieder mit Partnern aus dem lettischen Liepaja und Riga getroffen.

Schon die Suche nach ebenfalls integrativ arbeitenden Gruppen erwies sich als aufwändig. Die uneingeschränkte Gleichberechtigung von „Behinderten“ oder psychisch „Kranken“ auf künstlerischem Gebiet ist keine sehr verbreitete Errungenschaft – so dass aus dem binationalen Projekt letztlich der Starschuss für, hoffentlich dauerhafte, Initiativen vor Ort wurde. Für „Blaumeier“ erwies sich der Prozess als nicht minder innovativ: Erstmals haben sich die KünstlerInnen dem Schreiben und der Fotografie gewidmet, auch die Holzbildhauerei hat sich in Gestalt mehr oder weniger maritimer Galionsfiguren ihren Platz erobert.

Es sind aber nicht nur neue „Sparten“, sondern tatsächlich neue Dimensionen von Blaumeier-Kunst, die ab morgen in der Städtischen Galerie zu sehen sind. Schon die gewaltigen, zur Decke ragenden Pappelstämme respektive Holzskulpturen vermitteln einen Eindruck von der Intensität, mit der multimedial um maritime Essenzen gerungen wurde. Neben der Klassisch-Barbusigen steht dort Boleslaw Jankowskis Totempfahl-ähnliche Schauergestalt, die „Bitch“-Bugfigur von Carl F. wiederum treibt die dem Sujet innewohnende Sexualisierung auf die Spitze.

Direkt dahinter knallt „Logada 5“ von Arnold Hilken von der Wand: Eine Panorama-artige Hafenszene, die zurückhaltend mit „farbenprächtig“ beschrieben werden kann. Das Überzeugende an Blaumeier-Kunst ist das unmittelbare Nebeneinander von überbordender Fülle, furchtlosem Pathos und schnoddriger Alltags-Perspektive. Nicht weit von Hilkens Großformat hängt also ein Text von Carl F.: „Die Muschel sieht einfach scheiße aus. So eine werf ich gleich ins Meer zurück. Vielleicht war da ne Perle drin, dann hab’ ich Pech gehabt.“ Lockerer kann man Polaritäten kaum formulieren.

Nun muss sich man freilich auch vor Überbewertung hüten. So ist nicht jede der etwa 60 ausgestellten Fotografien ein Meilenstein der Lichtbildnerei. Wobei sich auch nirgends eine bloße Schnappschuss-Trouvaille einschmuggeln konnte: Olaf Schlote, der das Projekt mitinitiierte, hat den gewaltigen Spannungsbogen zwischen Tausenden von „Versuchsfotos“ und der Endauswahl mit unerbittlichen Qualitätsmaßstäben begleitet. Fritz Haase, immerhin so etwas wie ein Nestor der Bremer Fotografie, sieht in den zum Teil streng formalen, aber auch mit „Mitteln der entfesselten Kamera“ spielenden Bildern einen „Beleg für die Faszination des eigenen Tuns“. Die Arbeit mit den – per Spendenaufruf eingesammelten – Analog-Kameras sei keineswegs ein „Anachronismus, sondern ein avantgardistischer Schritt zurück in eine Welt des Bildermachens mit allen Sinnen“. In der Tat: Wenn Boleslaw Jankowski seine Perspektiven konsequent aus dem Rahmen kippen lässt liegt darin ein ebenso genuiner Gestaltungsakt wie in Jürgen Klamanns Überblendungen der „Pride of America“.

Ein bemerkenswert gut gestalteter Text- und Kunstband, der bei Temmen als opulenter 270-Seiter erschienen ist, erlaubt weitere Einblicke in den binationalen Schaffensprozess. Nach einer Präsentation in Riga soll die Ausstellung auf weitere Wanderschaft nach Kopenhagen und Danzig gehen. HB

Eröffnung: morgen um 19 Uhr. Ab kommenden Donnerstag zeigt zudem das Hafenmuseum die Ausstellung „Schuppen 22 – Blaumeier im Bremer Hafen“