Berliner Platten: Schluckauf auf dem Tanzboden: Als Uusitalo stemmt sich Vladislav Delay gegen die Einöde in der Computermusik, und Sun Electric erinnern sich an früher
Seine Eltern haben ihn vor 31 Jahren auf den Namen Sasu Ripatti taufen lassen. Wie es sich eben gehört für einen eher blässlichen, ziemlich blonden Finnen. Er selbst aber nennt sich Vladislav Delay. Oder Luomo. Mal auch Conoco. Eher selten Sistol. Oder, wie im Fall von dem Album „Karhunainen“, Uusitalo. Was immer Ripatti, der seit Jahren in Berlin lebt, mit den Pseudonymen bezweckt, musikalisch waren die Unterschiede zwischen den einzelnen Reinkarnationen stets, jedenfalls von außen betrachtet, eher marginaler Natur.
Auch auf „Karhunainen“, benannt nach einem von seinem Vater geschriebenen Theaterstück, begibt sich Delay mal wieder auf die Suche nach dem perfekten Beat, schichtet obskure Geräusche im Rechner übereinander und arrangiert sie zu warmen, atmosphärischen Stücken. Diesmal verzichtet er weitgehend auf menschliche Stimmen, aber haucht wie gewohnt auch den Maschinen eine Seele ein. „Nälkälaulu“ klingt bisweilen, als hätte die CPU Schluckauf bekommen, „Himo Perkele“ wie ein jammernder Transistor. Das ist lange schon kein Techno mehr, viel zu üppig für Minimal und zu spartanisch für House. Es ist wohl vor allem einfach Vladislav Delay, schließlich ist der Mann längst selbst zum Klassiker gereift, dem man ruhig das private Subgenre zugestehen kann. Allerdings: So ausgefeilt der Entwurf auf „Karhunainen“ auch klingt, man hat schon abwechslungsreichere Programmierarbeiten gehört von Delay. Tracks wie „Sikojen Juhla“ schaben doch recht einfallslos ihrem mitunter zu spät kommenden Ende entgegen. Verglichen aber mit der mittlerweile in der Computermusik herrschenden Einöde, ist jede Äußerung von Vladislav Delay eine Offenbarung.
Einen ähnlich unangefochtenen Status haben sich Sun Electric erspielt. Als alle Welt immer nur eins auf die Eins wollte und die Tanztempel von Vergnügungssüchtigen platzten, denen die Bassdrum gar nicht geradeaus genug sein konnte, da dachte das Berliner Duo bereits weiter. Tom Thiel und Max Lodenbauer experimentierten und erforschten Klanguniversen, die bis dahin kein Mensch betreten hatte. Sie waren Pioniere: auf ihrem Mist – und mit der Unterstützung des ständigen Kollaborateurs Thomas Fehlmann – wuchs das, was man mangels einer geeigneteren Schublade IDM, also Intelligent Dance Music, nannte. Später entstand daraus Electronica, also die elegant programmierte Soundtapete. Und als man dazu nicht mal mehr vernünftig das Sektglas schwenken konnte, taufte man das Kindchen schließlich Ambient. Doch bevor sich das wiederum in süßliche New-Age-Soße auflöste, veröffentlichten die beiden 1998 ihr letztes Album – bis heute.
„Lost + Found (1998–2000)“ versammelt, wie der Titel schon sagt, bislang nicht veröffentlichte Aufnahmen aus den letzten Jahren des Duos. Die fanden sich, so geht die Legende, auf einer vergessenen CDR bei einem Freund auf Lanzarote. Die archäologischen Fundstücke sind keine Sensation, aber doch eine schöne Erinnerung an eine Zeit, als die elektronische Musik noch aufbrach in die eigene Zukunft. THOMAS WINKLER
Uusitalo: „Karhunainen“ (Huume/Alive)
Sun Electric: „Lost + Found (1998–2000)“ (Shitkatapult/Alive)
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