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Korrumpiertes Lohnproletariat

betr.: „Abschied von Gorz“, taz vom 26. 9. 07

Der Autor Martin Kempe hat André Gorz’ drei fundamentale – unter Linken natürlich umstrittene – Erkenntnisse unzureichend, falsch oder nicht wiedergegeben:

1. Das industrielle Lohnproletariat ist kein revolutionäres Subjekt (mehr). Es ist durch die partielle Einbindung in den kapitalistischen Verwertungs- und Konsumtionsprozess korrumpiert. Für die entfremdete Arbeit wurde es durch eine Konsumbeteiligung entschädigt, ist daher lahmgelegt, bereit für ökologische und soziale Schandtaten im Namen der den Status sichernden „Arbeit“.

2. Der konservativ-sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat, dem heute noch viele Linke eine Träne nachweinen, hat seine neoliberale Abschaffung provoziert. Er konnte weder von den Einzahlern noch von den Begünstigten als ein Projekt der Emanzipation wahrgenommen werden, weil er kaum alternative Arbeits- und Lebensentwürfe gestattete – für keinen Beteiligten.

3. Das bedingungslose Grundeinkommen ist für Gorz seit 1997 („Arbeit zwischen Misere und Utopie“, 2000) – neben dem Recht auf Unterbrechung der Arbeit und auf Multiaktivität und der Wiederaneignung der öffentlichen Räume – ein grundlegendes emanzipatorisches Projekt, nicht die „Subventionierung der widerlichsten Ausbeuter“, wie Kempe meint. Kempe ist mit seiner Auffassung nicht auf der Höhe der Zeit. Er gibt Gorz’ Skepsis Anfang der 90er wieder und verschweigt die grundsätzliche Bejahung des Grundeinkommens im Rahmen einer systemtranszendierenden Perspektive.

André Gorz’ Vermächtnis lautet: Sucht in den gegebenen Verhältnissen und Entwicklungen nach emanzipatorischen Potenzialen. Wandelt die Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse zu Möglichkeiten selbstbestimmter Lebensgestaltung. Nutzt den Wandel zur Wissensgesellschaft zur Vergesellschaftung der „Produktion des Lebens“ (Marx) – löst euch mit Marx von der Arbeitswertlehre und dem Arbeits(zeit)fetisch der bürgerlichen Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts. Und: Denkt und gestaltet soziale Sicherheit immer mit der Zunahme persönlicher Freiheit verbunden, zum Beispiel mit einem Grundeinkommen. Viele Herausforderungen für die Linke also. Sie anzunehmen, bedeutet Gorz zu ehren.

RONALD BLASCHKE, Dresden

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