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Archiv-Artikel

Emotionale Prärie

THEATER Stephan Kimmig inszeniert am Stuttgarter Schauspielhaus „August: Osage County. Eine Familie“ von Tracy Letts als dreistündigen Streifzug durch eine verwüstete Familienlandschaft

Es ist heiß in Osage County und: „Das Leben ist sehr lang.“ Was als Zitat des Schriftstellers T. S. Eliot in den dunklen Zuschauerraum des Stuttgarter Schauspielhauses klingt, ist weniger Prolog als Kern des Dramas „August: Osage County. Eine Familie“ von Tracy Letts. Der amerikanische Drehbuchautor und Schauspieler ist selbst in der Einöde von Oklahoma aufgewachsen und erhielt für das autobiografisch angehauchte Drehbuch 2008 den Pulitzer-Preis.

Regisseur Stephan Kimmig ließ seine Figuren am Samstag im Stuttgarter Schauspielhaus in eine eigene Art der inneren und äußeren Wüste stolpern. „Wer war das Arschloch, das dieses platte, heiße Nichts erblickt und eine Flagge reingerammt hat“, fragt die entnervte Barbara (Anja Schneider) ihren schwitzenden, kofferbepackten Gatten Bill (Michael Stiller). Sie sind angereist. Aus dem einzigen Grund, der Menschen zwingt, Gegenden zu besuchen, die nicht nur temperaturmäßig der Hölle entsprechen: Familie.

In diesem Fall ist das Verschwinden und der wenig später diagnostizierte Selbstmord ihres Vaters Bev der Grund, nach Hause zu kommen. Was Barbara ihr Zuhause nennt, ist ein bewohnbarer dreistöckiger Würfel, dessen weißgetünchte Holzwände in kaltem Licht erstrahlen. Sonst ist da nichts außer leerem Raum. Denn dieser architektonische Hybrid aus Sauna und Strafvollzugsanstalt ist kein Hort der Erinnerung, sondern klinischer Krankheitsfälle einer Familie.

Allen voraus die krebskranke und tablettensüchtige Frischwitwe Violet mit einem Temperament zwischen Kühlschrank und Flammenwerfer. Astrid Meyerfeld scheint die Rolle dieser cholerischen Giftspritze zunächst wie auf den Leib geschnitten. Mit diktatorischem Klopfen ihres Gehstocks stolziert sie umher, vollführt im Bademantel Zornestänze auf dem Küchentisch, erniedrigt ihre drei Töchter Barbara, Karen (Birgit Unterweger) und Ivy (Sandra Gerling) und ist dabei schrecklich unterhaltsam. Es ist die unerschöpfliche Kraft einer Maschine fern letzter Menschlichkeit, die sie über die Bühne und ihre Familie in den individuellen Wahnsinn treibt.

Der ganze Clan ist längst von einer Art emotionalem Erbschaden befallen. Im immergleichen Neonlicht kämpft Barbara mit Bill beim Zähneputzen um ihre gescheiterte Ehe mit derselben Unnahbarkeit wie ihre Mutter. Karen, die föhnfrisierte Verkörperung von Naivität, predigt in weichgespültem Erkenntnisgesäusel dem Publikum von ihrer Selbstfindung als Immobilienmaklerin und ihrer großen Liebe Steve (Horst Kotterba). Steve ist ein weißhaariger Blender in Chucks, der wenig später neben Barbaras 14-jähriger Tochter Jean (Svenja Liesau) beim gemeinsamen Haschrauchen liegt und ekelhaft zweideutige Anspielungen macht.

Heimliche Heldin des Stückes ist Sandra Gerling als jüngste Tochter Ivy. Sie trägt Verzweiflung als ewig zerweintes Gesicht wie ein Brandmal und meistert den überzeugenden Spagat zwischen Hass und Liebe, die den Wahnsinn des Stücks ausmachen. Sie ist es, die trotz aller verbaler Demütigung ihrer irren Mutter noch sagen kann, dass sie schön sei, oder mit ihr zu Barry White zappelt und einen kurzen Moment das Gefühl erzeugt, dass in diesem absurden Totentanz geteilter Schmerz steckt.

Doch statt in Trauer zueinander zu finden, kocht die Familienmixtur beim Leichenschmaus über. Auf einer langen Tafel werden nicht etwa schöne Erinnerungen aufgetischt, sondern Violet schlägt als groß projizierte Tischtyrannin alles kaputt, was die Familienillusion überdauert hat.

Und damit endet, was als sensibler Blick in familiären Beziehungsabgründe begann. Man wartet eine lange Stunde ab, bis sich jeder Familienteil brüllend von der Bühne verabschiedet hat. Hier spürt man wirklich die Ödnis der Prärie, und zwar im monotonen Geschrei. Das ist vor allem eine Ödnis der Gefühle, denn Verzweiflung, Verletztheit und Boshaftigkeit werden nicht in Dezibel gemessen. Es sind gerade die leisen, ernsthaften Momente, die zu kurz kommen. Die Momente, in denen Violets unmenschliche Stärke nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Aber genau dann erstarrt Astrid Meyerfeld als makellose Maske.

Das Leben ist sehr lang – manche Stücke sind es auch. Und noch länger, wenn man am heißesten Ort der Erde an innerer Kälte erfriert. JUDITH ENGEL