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Archiv-Artikel

Der gefangene Zeuge von Andischan

Der Menschenrechtler Saiddschachon Sainabitdinow, 50, sitzt in Usbekistan in Haft. Auch um seine Freilassung zu erreichen, wollte die EU gestern die Sanktionen gegen das Regime lockern FOTO: HRW

Auf den Handflächen von Saiddschachon Sainabitdinow lagen zwei leer geschossene Hülsen großkalibriger Patronen, als der Fotograf den Auslöser bediente. Das Bild dient als Beweis, dass die usbekischen Sicherheitskräfte den Volksaufstand in Andischan am 13. Mai 2005 auch mit schweren Maschinengewehren niederschossen. Dabei sollen hunderte AndischanerInnen getötet worden sein. Die usbekische Regierung leugnet bis heute das Massaker und spricht von der Niederschlagung eines Terroraktes.

Während des Massakers informierte Sainabitdinow von vor Ort Journalisten und Menschenrechtler weltweit über die Vorgänge im Ferghanatal. Außer Patronenhülsen sammelte er auch blutige Kinderkleidung und zeigte diese den wenigen Journalisten, die die Einreise nach Andischan geschafft hatten. Der usbekische Staat rächte sich dafür bitter an dem 50- Jährigen. Schon vor dem Massaker gehörte er zu dem kleinen Kreis mutiger Menschenrechtler, die sich der alltäglichen Staatswillkür entgegenzustellen versuchten. Im Mai 2005 wurde er Zeuge des Massakers und damit zum Staatsfeind. Am 21. Mai 2005 verschwand er.

Erst Wochen später erfuhr die Familie von seiner Verhaftung. Im Januar 2006 verurteilte ein usbekisches Gericht den unliebsamen Zeugen zu sieben Jahren Haft wegen Verleumdung des Staates, verfassungsfeindlicher Tätigkeit und Kooperation mit Terroristen. Weder die Familie noch ein unabhängiger Anwalt hatten Zugang zum Verfahren. Als sein Sohn nicht aufhörte, gegen die Haft des Vaters zu demonstrieren, wurde auch er verhaftet und verurteilt – angeblich wegen Besitzes von Falschgeld.

Im usbekischen Gefängnis, wo Folter und Erniedrigung an der Tagesordnung ist, wurde Sainabitdinow zu staatsgenehmen Aussagen genötigt. Nach einem Verhörprotokoll, das der taz vorliegt, musste er aussagen, dass alle gegebenen Interviews falsch waren und dass er an einer Verschwörung von Islamisten und US-Botschaft gegen den usbekischen Staat beteiligt gewesen sei. Seit seiner Verhaftung setzen sich internationale Menschenrechtsorganisationen und westliche Regierungen – bisher vergeblich – für Sainabitdinows Freilassung ein. Die usbekische Regierung ließ sich bisher nicht erweichen. Neben Sainabitdinow sitzen weitere zwölf Menschenrechtler in Haft- oder Krankenheilanstalten. Alle Gefangenen sind zur Verhandlungsmasse zwischen der EU und Usbekistan geworden. Die EU wollte noch gestern die Sanktionen im vorauseilenden Gehorsam gegen den despotischen Staat abmildern, in der Hoffnung, dass dieser die Menschenrechtler dafür freilässt, vor allem den Zeugen von Andischan.

MARCUS BENSMANN