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Archiv-Artikel

Rüffel aus Karlsruhe

Nach der hanseatischen Richterschaft bemängelt auch das Bundesverfassungsgericht, dass der offene Vollzug in Hamburg faktisch abgeschafft ist. Der Justizsenator will diese Praxis gesetzlich verankern – das „Sicherheitsinteresse“ gehe vor

WEGSPERREN STATT RESOZIALISIEREN

Der Politikwechsel im Hamburger Strafvollzug, einst Vorreiter in Sachen Resozialisierung, trat 2001 ein, als die CDU mit dem Rechtspopulisten Roland Schill ein Regierungsbündnis einging. Als Justizsenator berief Bürgermeister Ole von Beust Roger Kusch, der dem „gnadenlosen Richter“ Schill als Bundesanwalt in nichts nachstand. Seine Parole: „Ein Knastaufenthalt ist kein Urlaub.“ Fortan setzte Kusch auf Repression und Wegsperren. Alle Gefängnischefs wurden ausgetauscht. Billwerder, unter Rot-Grün als moderne Haftanstalt des offenen Vollzugs mit 300 Plätzen konzipiert, wurde flugs zu einem Megaknast mit 800 Plätzen des geschlossenen Vollzugs umgewandelt. Der geschasste Kusch ist mittlerweile aus der CDU ausgetreten und hat die populistische Partei „Rechte Mitte – HeimatHamburg“ gegründet. Sein Geist lebt in der Justizpolitik der CDU fort.  KVA

VON KAI VON APPEN

Der Kritik am Hamburger Strafvollzug hat sich jetzt auch das Bundesverfassungsgericht angeschlossen. Am Montag rüffelten die Richter die Hamburger Praxis des Einsperrens, weil die Strafvollzugsbehörden einem Strafgefangenen den offenen Vollzug zunächst verweigert und damit gegen „grundrechtlich geschützte Belange“ verstoßen hätten.

Bereits Ende September hatte Bundes-Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) den Gesetzentwurf des CDU-Justizsenators Carsten Lüdemann für ein neues Strafvollzugsgesetz „verfassungsmäßig grenzwertig“ genannt. Unmittelbar zuvor hatte der Hamburger Landgerichtspräsident Kai-Volker Öhlrich in einem Brief an Lüdemann gerügt, dass in den Gefängnissen seit 2003 mindestens neun Urteile von Strafvollstreckungskammern nicht umgesetzt worden seien.

Das Klima ist rau geworden zwischen der hanseatischen Richterschaft und dem Justizsenator. Unverhohlen wird ausgesprochen, dass die Juristen enttäuscht sind, dass sich nach dem Rausschmiss von Hardliner Roger Kusch 2006 durch Bürgermeister Ole von Beust an der Politik im Strafvollzug nichts geändert habe. Lüdemann, damals Staatsrat unter Kusch, verfolge weiter dessen Doktrin des präventiven Wegsperrens.

Das frostige Verhältnis hat inzwischen dazu geführt, dass sich ein einzigartiges Bündnis aus RichterInnen, StaatsanwältInnen, RechtsanwältInnen und Mitarbeitern der Straffälligen-Hilfe gebildet hat, um Lüdemanns Pläne für ein neues Strafvollzugsgesetz zu stoppen. Gemeinsam wolle man „die Öffentlichkeit informieren“, wie es Gerhard Scharberg, Vorsitzender des Hamburger Richtervereins, dezent formuliert. Es gebe zwar die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, bis Ende des Jahres den Jugendstrafvollzug gesetzlich neu zu regeln. Für eine Neuregelung des Strafvollzugs bestehe jedoch kein Bedarf.

Statt sich dem gemeinsamen Gesetzesentwurf von zehn Bundesländern für ein Jugendstrafvollzugsgesetz anzuschließen, hat Lüdemann einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt, in dem Erwachsenen- und Jugendstrafvollzug gemeinsam geregelt werden. Straf- und Jugendstrafvollzug hätten völlig unterschiedliche Ziele, wenden die Kritiker ein. Durch Lüdemanns Coup wird nun auch gesetzlich geregelt, dass bei Erwachsenen der geschlossene Vollzug zum Regelvollzug wird. „Der Senat stellt das berechtigte Sicherheitsinteresse der Menschen in unserer Stadt in den Mittelpunkt seiner Vollzugspolitik“, so die Begründung des Senators.

Dem widerspricht die aktuelle Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts. Die Justiz hatte einem Strafgefangenen, der wegen räuberischer Erpressung zu zwei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt worden war, den offenen Vollzug verweigert. Den hatte er beantragt, weil er sonst seinen Arbeitsplatz verlieren würde. Begründet wurde die Ablehnung mit der Hamburger Praxis, die Eignung zum offenen Vollzug erst innerhalb des geschlossenen Vollzuges zu prüfen. Nachdem die Anwältin des Gefangenen vor das Bundesverfassungsgericht ging, sicherten die Vollzugsbehörden allerdings zu, innerhalb von 14 Tagen über den offenen Vollzug zu entscheiden – und verfügten ihn dann auch.

Die Verfassungsrichter ließen die Beschwerde nur deswegen nicht zu, weil die Behörden nachgegeben hätten. Zunächst sei die Rüge „begründet“ gewesen, schreiben sie in ihrem Beschluss. Das Grundgesetz verlange, dass der Strafvollzug auf das Ziel der sozialen Integration ausgerichtet ist. „Nach der Konzeption des Strafvollzugsgesetzes ist der offene Vollzug, so weit keine Flucht- oder Missbrauchsgefahr besteht, für geeignete Gefangene die Regelvollzugsform.“

Eine Vorgabe, die Lüdemann aller Kritik zum Trotz ignoriert. „Vollzugslockerungen sind in Hamburg Luxus geworden“, sagt Horst Becker, Vorsitzender einer Strafvollstreckungskammer am Landgericht. Es sei populistisch der Öffentlichkeit vorzugaukeln, dass der rigide Strafvollzug Sicherheit für die Bevölkerung gewährleiste. Wenn Gefangene „ohne Erprobung der Lockerungen aus dem geschlossenen Vollzug entlassen und wie früher mit einem Persilkoffer vor das Gefängnistor geschickt“ werden, so Becker, „wird ein Rückfall wahrscheinlicher“.