: „Versuchen Sie doch mal, im Restaurant über das Arschloch zu reden“
VERBORGENES Der kanadische Künstler AA Bronson nimmt den Anus ernst. Und benutzt ihn um zu heilen. Ein Gespräch über ein befreiendes Vergnügen
■ Der Mensch: AA Bronson, 65, war ab 1969 Mitglied des Künstlerkollektivs „General Idea“, bis seine beiden Partner 1994 an Aids verstarben. Seit zehn Jahren arbeitet er neben seiner Kunst auch als Heiler. Er lebt in New York.
■ Die Ausstellung: „Queer Spirits and Other Invocations“ ist bis zum 17. Dezember in der Berliner Galerie Esther Schipper (www.estherschipper.com) zu sehen. In seinen Arbeiten verhandelt Bronson Trauma, Heilung und Verlust.
VON ENRICO IPPOLITO (INTERVIEW) UND SAMANTHA DIETMAR (FOTO)
Auf dem Esstisch in AA Bronsons Berliner Apartment liegt eine Wünschelrute. Hier lebt ein Künstler, der auch Schamane ist. Der Kanadier Bronson wohnt eigentlich in New York, ist aber für eine Ausstellung in Berlin. In grauen, abgetragenen Jeans und T-Shirt steht er im warmen Licht, das durch die großen Fensterfronten strömt. Dann stellt er das MacBook neben die Wünschelrute und zeigt Schnappschüsse von neuen Werken: mit Diamanten besetzte Fotos von sich – nackt, mit einem Sexspielzeug im Hintern, aus dem Federn ragen.
sonntaz: Herr Bronson, Sie haben schon viele Menschen am Schließmuskel berührt. Was sagt der Anus über eine Person?
AA Bronson: Er ist der Ort, wo wir unsere Scham und unsere Geheimnisse verbergen. Er hat eine Persönlichkeit – es gibt eine Diversität von Arschlöchern.
Wie unterschieden sie sich?
Schon rein äußerlich ist jedes anders – zum Beispiel in seiner Position. Aber es ist die meistgehütete Stelle unseres Körpers. Man kann sein eigenes Arschloch nicht sehen außer im Spiegel. Und da ist schon der erste verborgene Aspekt.
Was interessiert Sie als Künstler am Hintern?
Viel meiner Kunst beschäftigt sich mit Heilen. Von meinem ersten Lehrer, einem Cherokee-Heiler, habe ich viel über diese Körperöffnung gelernt. Er hat mir gezeigt, wie man richtig mit dem Arschloch arbeitet, und mir die Anusmassage beigebracht.
Wie kam das?
Es war in der Zeit, als ich in der Künstlergruppe General Idea lebte und arbeitete. Ich begann, Heilerkurse in Kalifornien zu besuchen, als Jorge und Felix krank wurden.
Felix Partz und Jorge Zontal waren Ihre Partner in der Gruppe. Beide starben 1994 an Aids.
Felix wurde 1989 positiv diagnostiziert und Jorge 1990. Wir begannen ihren Tod vorzubereiten, der damals unausweichlich war. Ich wollte eine Hebamme für die Sterbenden werden, so nannte ich es. Mein Ziel war es, in der Zeit des Übergangs so gut wie möglich für sie da zu sein.
Schon lange vor der Diagnose drehte sich viel Ihrer gemeinsamen Kunst um HIV und Aids. Warum?
Es begann mehr oder weniger zufällig, als wir gebeten wurden, ein Werk zur ersten Verkaufsauktion zugunsten der Amerikanischen Gesellschaft für Aidsforschung beizusteuern. Da machten wir unser erstes Aidsgemälde. Ein enger Freund war krank, und mein Partner Jorge und ich kümmerten uns um ihn, bis er 1987 sehr früh starb. Danach schien es, als wären wir umgeben von kranken und sterbenden Menschen, und wir steckten all unsere Energie in diese Sache.
Sie tapezierten Museumsdecken mit riesigen Pillen und tauschten in einem Kunstwerk die Buchstaben „LOVE“ durch „AIDS“ aus.
Unser größtes Problem war, dass wir in die Kategorie „Aidskünstler“ gesteckt wurden. Amerikaner hassen Komplexität. Es gibt zum Beispiel viele Arbeiten aus den Siebzigern von uns, die spirituelle Bezüge haben. Aber die Kunstkritiker haben diesen Aspekt einfach ausgeblendet. Es war ein verbotenes Thema, das ändert sich erst jetzt langsam. Bis zum Ende der Achtziger wurde auch nie darüber gesprochen, dass ein Künstler homosexuell ist. Mit der spirituellen Kunst ist es ähnlich.
Waren Ihre Kurse bei dem Cherokee-Heiler der erste Kontakt zum Schamanismus?
Nein, das begann schon, als ich sieben war.
Mit sieben Jahren?
Ja, ich ging jeden Sonntag in den Kindergottesdienst. Ein Lehrer dort, den ich sehr mochte, ging, und es kamen zwei Missionare. Jede Woche schalteten sie das Licht aus und zeigten Dias von hungernden afrikanischen Kindern. Ich war schon mit sieben Jahren ein kleiner Intellektueller und so wütend auf dieses Paar, weil sie uns nichts beibrachten. Also weigerte ich mich hinzugehen. Ab da lieh ich mir alle religiösen, esoterischen und spirituellen Bücher aus der Bücherei aus, die ich finden konnte.
Gab es einen familiären Bezug?
Mein Ururgroßvater war ein anglikanischer Missionar für die Blackfoot Indians um 1800. Sein Erzfeind war der Medizinmann des Stammes. Mein Vater wuchs in einem Reservat für amerikanische Ureinwohner auf.
Was waren die Schamanen für Männer?
Außenseiter. Das Wort an sich kommt aus der Mongolei.
Inwiefern Außenseiter?
Sie lebten nicht das gleiche Leben wie die anderen. Und sie trugen nicht die gleiche Kleidung, sie hatten einen besonderen Stil und eine eigene Art, sich der Welt zu präsentieren. In der Retrospektive waren sie oft das, was wir heute homosexuell nennen würden. Ihre Sexualität war damals nicht eindeutig definierbar.
Was haben Sie in Ihren ersten Heilerkursen gelernt?
Ich erinnere mich lebhaft an die erste Person, mit der wir gearbeitet haben – einen älteren Mann. Der Heiler legte seine Hände auf ihn und sagte zu mir: Leg deine an dieselbe Stelle und sag, was du empfindest. Es fühlte sich einfach wie ein Körper an, aber je länger ich die Hände dort hielt, desto mehr fühlte ich Watte. Wie eine dicke Lage mit etwas Faserigem darunter. Wie sich herausstellte, nahm der Mann das Medikament Lithium. Der Cherokee sagte: Genau so fühlt sich Lithium an. Er lehrte mich, meine Wahrnehmung zu lesen. Und brachte mir eben viel über das Arschloch bei – seine Spezialität.
In der Yoga-Philosophie ist der Hintern der Ort, wo wir Stress in uns halten.
Im Shiatsu auch. Aber im Westen kam dieses Wissen nicht an. Es ist üblich in der traditionellen chinesischen und koreanischen Medizin, mit dieser Körperstelle zu arbeiten. In anderen Ländern ist das nicht akzeptiert. Es ist unglaublich, was für ein Tabu der Hintern in der westlichen Welt darstellt. Versuchen Sie doch mal, in einem Restaurant über das Arschloch zu reden.
Dabei ist es ja auch ein Ort der sexuellen Anziehung. Berührungen dort sind sehr intim, für viele Menschen erotisch.
Was ich bei heterosexuellen Männern entdeckt habe, ist, dass dort Gefühle der Zärtlichkeit gehalten werden.
Wie meinen Sie das?
In Amerika dürfen ja heterosexuelle Männer nicht zärtlich sein – also verbergen sie es. Es ist ein mysteriöser Teil unseres Körpers. Du weißt nie, psychisch gesprochen, was du dort vorfindest. Alle verborgenen Erinnerung werden dort gesammelt.
Einer Studie zufolge haben 49 Prozent der Deutschen Erfahrungen mit Analsex. Darüber geredet wird nicht.
Analsex wird in einigen Ländern noch mit dem Tod bestraft.
Hat das Tabu damit zu tun, dass es dabei um Dominanz geht?
Wahrscheinlich ist das ein Teil des Problems. Die römischen Soldaten fickten in der Antike Männer in den Arsch – als Zeichen der Eroberung.
Einer Legende nach zwang der Teufel seine Jünger, ihm einen Kuss auf den Anus zu geben.
Ich mag dieses Geschichte. Wir tragen in dieser Region so viel Scham mit uns, und das verblüfft mich. Warum haben wir dort diese Scham und nicht an anderen Körperteilen? Ich kenne die Antwort nicht, und das, obwohl ich nun seit zehn Jahren als Heiler arbeite.
Aber ist es nicht ganz einfach – schließlich kommen aus dem Hintern die Exkremente.
Es stimmt, dass die Ausscheidung mit Scham verbunden ist, aber es muss nicht so sein. Kinder werden dazu erzogen, sich für ihre Exkremente zu schämen, damit sie die Toilette besuchen. Aber natürlich heißt das für mich, dass Scham ein immer präsentes Thema in den Dingen ist, die ich tue.
Nach Freud ist der anale Charakter geizig, pedantisch und ordnungsliebend.
Ich bin jedenfalls nichts davon.
Was für Menschen kommen für die Massage zu Ihnen?
Ich habe beschlossen, nur mit Männern zu arbeiten. Für mich ist das einfacher, weil ich ihren Körper gut kenne. Zwei Drittel der Männer, die zu mir kommen, sind unter 35 Jahre alt. Und die Mehrheit wurde als Kind missbraucht – meist vom Vater, manchmal auch durch den Onkel oder die Mutter. Das kann sexuell, körperlich oder emotional sein.
Warum kommen gerade Missbrauchsopfer?
Ich weiß es nicht. Missbrauch ist kein Thema, das ich in meiner Kunst verhandle. Aber der Cherokee-Heiler, von dem ich gelernt habe, wurde auch in seiner Kindheit und seiner Teenagerzeit oft vergewaltigt, weil er amerikanischer Ureinwohner ist – einmal sogar mit einer abgebrochenen Flasche. Er hat es geschafft, einen Weg zu finden, damit umzugehen, vor allem weil er sich dieses unglaubliche Wissen über das Arschloch angeeignet hat.
Das klingt verstörend. Vergewaltigte Männer, die sich durch Anusmassagen therapieren lassen wollen.
Es ist körperlich sehr mild, hat aber einen großen Effekt. Es ist mehr eine tief gehende spirituelle Erfahrung. Und das erwarten Leute nicht, wenn sie am Arschloch angefasst werden. Ich muss meine Klienten immer warnen, dass die Massage sehr viele Teile der Erinnerung freisetzt, die erst am nächsten Tag wahrnehmbar sind. Es kann zu Gefühlen wie Wut oder Freude kommen oder zu Tränen. Normalerweise setzt eine Woche später eine Art Selbstreflexion ein.
Jetzt mal konkret: Was machen Sie genau?
Ich beginne mit einer Massage, arbeite aber nicht mit Muskeln, sondern energetisch. Wenn ich meine Hände auflege, rede ich darüber, was ich fühle. Es ist, als ob die Männer mit ihrem eigenem Körper sprechen würden und ich der Übersetzer bin. Dann massiere ich ihren Penis. Danach kommt die Anusmassage. Hier werden sie dann ganz still.
Das ist doch seltsam. Immerhin haben Sie schon ihren Penis berührt.
Es ist schwerwiegender, vor allem für schwule Männer. Und auch für Männer, die es gewohnt sind, viel gefickt zu werden, ist es ungewohnt. Ich ficke sie ja nicht, ich berühre zu keiner Zeit die Prostata.
… die quasi die männliche Klitoris ist.
Was ich mache, ist eigentlich sehr simpel. Es ist eine Art Shiatsu, ich drücke nur Druckpunkte des äußeren Schließmuskels.
AA Bronson trinkt den letzten Schluck Wasser und nimmt sein Glas zwischen beide Hände. Seine Daumen legt er auf den Rand, einen rechts, einen links. An unterschiedlichen Stellen drückt er auf den Rand, beim letzten Mal ein wenig fester. Es sind langsame, fließende und gezielte Bewegungen. Bronson schaut konzentriert, zwischendurch schließt er für einen kurzen Moment seine Augen.
In Ihren Ausstellungen hängen oft Bilder von Ihnen und anderen Männern, die ausschließlich Buttplugs tragen – Sexspielzeuge, die im Anus stecken. Daraus ragen Federn.
Diese Bilder stammen von Invokationen.
Wie bitte?
Das sind Heraufbeschwörungen von Geistern, von queeren Geistern.
■ Sphinkter: Griechisch für „Schließmuskel“. Am Anus gibt es einen äußeren und einen inneren Sphinkter. Der innere besteht aus glatter Muskulatur und ist nicht steuerbar. Der äußere schon.
■ Anusmassage: Eine spirituelle Therapieform, bei der der Sphinkter – meist nur der äußere – stimuliert wird. Bei dem Künstler AA Bronson dauert sie zwei Stunden und kostet 100 US-Dollar.
■ Buttplug: Ein Sexspielzeug, auch Analstöpsel genannt. Er ist kegelförmig und am Ende breit. So kann er nicht völlig eingeführt werden und länger im Anus bleiben.
■ Queer: Bedeutet im amerikanischen Englisch ursprünglich „seltsam“, „sonderbar“. Heute ist „queer“ Oberbegriff für jede Sexualität fern der Heterosexualität.
■ Invokation: Die Beschwörung von Geistern durch ein magisches Ritual. AA Bronson benutzt es, um vor Ausstellungen queere Geister zu wecken.
■ Sigillenbild: Ergebnis eines magischen Rituals, bei dem eine Idee als Satz aufgeschrieben wird. Man streicht die Vokale und legt die Konsonanten übereinander. Das entstandene Bild ist die Sigille.
Ist das eine Art öffentliche Kunstperformance?
Nein. Vor der Ausstellungseröffnung beschwöre ich gegen Mitternacht mit einer Gruppe schwuler Männer Geister. Die Leute, die in die Ausstellung kommen, sehen nur die Reste unserer Nacht und müssen sich ausmalen, was passiert ist.
Aber warum haben Sie dafür Sexspielzeug im Hintern? Wegen Ihres Lieblingsthemas?
Das hat einen spirituellen Hintergrund. Ich habe schon Rituale erlebt, bei denen Menschen besessen wurden. Mein Lehrer hat mir beigebracht, man müsse Menschen in ihrem Körper präsent halten, damit sie nicht besessen werden. Das ist wie bei der Anusmassage – sie ist der effektivste Weg, jemanden in seinem Körper präsent zu halten. Auch die Buttplugs sollen Besessenheit vermeiden. Die Geister dürfen gern im Raum sein, aber nicht in unserem Körper.
Nehmen Sie das wirklich so ernst?
Ja und nein. Witzigerweise passiert, wenn der Buttplug eingeführt wird, noch etwas anderes: Männer fangen an, sich wie Hähne zu verhalten. Jeder ist ein wenig albern damit, und somit ist keiner dem anderen überlegen.
Leute, die unbefangener mit ihrem Anus umgehen, nehmen sich weniger ernst?
Ja, bei uns ist das sogar eine Art Ritual. Wir führen den Buttplug als Gruppe gemeinsam ein. Jeder lacht über den anderen und über sich selbst. Das führt zu Verbundenheit.
AA Bronson steht vom Glastisch auf, läuft ins Schlafzimmer und holt einen blass lilafarbenen Buttplug. Mit Gummibändern sind Hahnenfedern an dem Sexspielzeug befestigt. Mit kindlichem Stolz hält Bronson es hoch.
Wollen Sie eigentlich in erster Linie selbst Spaß haben?
Das, was ich Invokation nenne, hat so angefangen. Ich war für eine Woche in einem Ort in Kanada, in dem es nur einen schwulen Künstler gab, Peter Hobbs. Peter wurde langsam verrückt vor Langeweile. Wir entschieden uns, ein privates queeres Event zu veranstalten – nur um uns selbst zu unterhalten. Banff, die Stadt, in der wir waren, nutzen amerikanischen Ureinwohner für ihre Rituale und Zeremonien. Es gibt eine lange Tradition von Nurmännergesellschaften. Erst Fallensteller, dann Bahnarbeiter.
Also viel queere Energie.
Ja. Wir beschlossen, um Mitternacht zu beginnen. Nur wir beide in den Wäldern, es war unglaublich. Wir hatten eine Flasche Whiskey – so wie den Wein in der Kirche – und dazu Früchte und Schokolade. Was wir vor allem machten, war reden.
Nur reden?
Nicht nur, aber für das, was passiert, gibt es keine Regeln. Es können aber welche von der Gruppe gemeinsam erarbeitet werden. Meine erste Regel ist: Wir zeichnen einen Kreis, und wir bleiben körperlich in diesem Kreis. Wir sprechen nicht über Vergangenes oder über Dinge, die an anderen Orten passieren – nur über den gegenwärtigen Moment.
Das klingt einfach.
Es können auch Dinge hinzukommen, wie eine Sigille.
Was ist das jetzt wieder?
Man fängt mit einer Idee an, dann überlegt man sich einen Satz dazu. Den Satz schreibt man auf und streicht die Vokale. Die verbleibenden Buchstaben legt man so übereinander, dass ein Logo daraus entsteht. Immer enger und enger. Das, was dann herauskommt, ist eine Sigille. Man schaut sie an, masturbiert dazu und ejakuliert, während man die Sigille vor Augen hat – dadurch ist sie fix im Geist.
Und dann?
Dann verbrennt man das Stück Papier.
■ Enrico Ippolito, 28, taz-Volontär, überlegt immer noch, ob er das Angebot einer Anusmassage annehmen soll
■ Samantha Dietmar, 32, freie Fotografin in Berlin, nahm AA Bronsons Hintern nicht wahr, seine schwarze Brille umso mehr