Soll die EU die Zeitumstellung abschaffen?
Ja

RHYTHMUS Am Sonntag wandert der Uhrzeiger wieder eine Stunde zurück. Manche Forscher warnen vor Schlafstörungen – andere sehen die Sommerzeit als Therapie

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Herbert Reul, 59, ist CDU-Politiker und Mitglied des Europäschen Parlaments

Das Motiv für die Zeitumstellung war mal die Ölkrise, es sollte Energie eingespart werden. Heute wissen wir: Energie wird nicht eingespart! Trotzdem belästigen wir ganz Europa mit der Umstellung. Das führt zu mehr Verkehrsunfällen, Problemen in der Landwirtschaft, Konzentrationsproblemen bei SchülerInnen. Neue Ergebnisse der Schlafforschung zeigen, dass die Diskrepanz zwischen der inneren Uhr und der sozialen Zeit durch die Sommerzeit verschärft wird und sich die Wahrscheinlichkeit von Erkrankungen und Fettleibigkeit im Alter erhöht. Warum kehren wir nicht zum Normalzustand zurück? Weil die Politik nicht die Kraft hat, einmal getroffene falsche Entscheidungen zurückzunehmen.

Christian Friege, 45, Vorstandsvorsitzender des Energieversorgers LichtBlick

Die Zeitumstellung sollte abgeschafft werden. Denn zum Klimaschutz taugt sie nicht. Die anfängliche Hoffnung, durch längere Sommerabende könnte Energie gespart werden, hat sich nicht erfüllt. Da sind andere ungeliebte Kinder der Europäischen Union wie das Glühbirnenverbot wirkungsvoller. Allerdings spendiert uns die Sommerzeit mediterrane Abende, die wir in schönstem Müßiggang mit Freunden oder Familien in Cafés, im Garten oder auf dem Balkon genießen können. Darauf zu verzichten, wäre jammerschade. So wäre eine ganzjährige Sommerzeit ohne lästige Zeitumstellung wahrscheinlich die beste Lösung.

Till Roenneberg, 58, erforscht, wie Licht unseren Tagesrhythmus beeinflusst

Sommerzeit heißt: zwischen März und Oktober eine Stunde früher zur Arbeit zu gehen – damit das keiner merkt, werden die Uhren umgestellt. Das ist nutzlos – und schädlich. Alle Organismen, auch wir Menschen, haben sich an den Wechsel von Tag und Nacht angepasst und innere Uhren entwickelt. Diese richten sich nur nach Licht und Dunkel und gehorchen daher dem Sommerzeitdiktat nicht. So bekommen wir im Sommer nachweislich noch weniger Schlaf als im Winter, wenn wir unter Normalzeit leben dürfen, und Schlafmangel erhöht das Risiko, kränker, dümmer und unfreundlicher zu werden. So einfach (und traurig) ist das mit der Sommerzeit.

Gudrun Kopp, 61, FDP-Staatssekretärin im Bundesentwicklungsministerium

Die Zeitumstellung verursacht volkswirtschaftliche Belastungen und ist gesundheitsschädigend. Auch die erhoffte Energieeinsparung wurde nicht erreicht. Hinzu kommt der technische und bürokratische Aufwand, der Unternehmen hohe Kosten verursacht. Jeder zweite Deutsche leidet aufgrund der Umstellung unter Schlafproblemen. Durch die zusätzliche Stunde kann ein Mini-Jetlag entstehen, wodurch die Gefahr von Verkehrsunfällen steigt. Sensible Menschen, vor allem Kinder, leiden am Eingriff in ihren Biorhythmus. Wir sollten die Kraft finden, Regeln, die nachteilig wirken, zu streichen.

Friedrich Weitner, 52, Bergbautechnologe, kommentierte die Frage auf taz.de

Schon traurig: Wenn sich irgendwelche Beamte aus purer Langeweile in völlig überbezahlten Jobs plus Privilegien wie Unkündbarkeit, exorbitanten Pensionen ohne Beitragszahlung, Beamtenkrediten und Beamtenwohnungen doch dazu hinreißen lassen, etwas zu tun, kommen solch irrsinnige Regelungen wie die Zeitumstellung dabei raus. Es dauert Generationen, bis sich jemand hinstellt und verkündet: Da haben wir mal wieder so richtig Scheiße gebaut.

Nein

Kerstin Westphal, 49, sitzt seit 2009 für die SPD im Europaparlament

Die Zeitumstellung ist keine Vorgabe der EU, sondern eine Entscheidung der Mitgliedstaaten. Die Bundesrepublik hat sich 1978 dafür entschieden, aber bis 1980 gewartet, um die Umstellung zeitgleich mit der DDR einzuführen. Zwei unterschiedliche Uhrzeiten in Berlin hätten wenig Sinn ergeben. Um zu verhindern, dass in Europa unterschiedliche Zeiten gelten, gibt es eine Richtlinie, die die Umstell-Daten europaweit vereinheitlicht. 2007 wollte die EU eine Rückmeldung. Fast alle Länder – auch Deutschland – sahen keine Notwendigkeit, von der gültigen Praxis abzuweichen. Ob die Umstellung zur Energie-Ersparnis beiträgt, mag man anzweifeln. Ich denke aber, dass nach über dreißig Jahren die EuropäerInnen daran gewöhnt sind und aus Binnenmarkt-Sicht eine Abschaffung neue Probleme schaffen würde. Meine Familie und ich genießen es übrigens, im Sommer länger draußen zu sein.

Jan Born, 53, ist Leiter des Instituts für Medizinische Psychologie der Uni Tübingen

Die Sommerzeit sollte nicht abgeschafft werden. Denn die Sommerzeit wurde aus gutem Grund eingeführt: Damit die Menschen mehr ihrer aktiven Zeit bei Tageslicht verbringen können. Gerade jüngste Studien belegen eindrucksvoll, dass Tageslicht gesund ist. Durch verstärkte Lichtzufuhr können beispielsweise Demenzsymptome bei älteren Menschen genauso erfolgreich behandelt werden wie mit herkömmlichen Medikamenten. Depressionen können durch Licht gemildert werden, schließlich braucht der Körper Sonnenlicht, um Vitamin D zu bilden. So gesehen ist die Sommerzeit eine kollektive Lichttherapie. Die gesundheitlichen Risiken des nur um eine Stunde verschobenen zirkadianen Rhythmus sind dagegen gering und können dadurch gemildert werden, dass man den eigenen Schlaf-Wach-Rhythmus allmählich, über mehrere Tage hinweg, an die neue Zeit anpasst.

Wladimir Kaminer, 44, Schriftsteller russischer Herkunft

Die EU sollte sich lieber mit richtigen Problemen beschäftigen statt mit der Zeitumstellung. Sommerzeit oder Winterzeit – ist doch egal, der Tag wird trotzdem weiterhin 24 Stunden haben. Die Diskussion um die Zeitumstellung ist nur ein weiteres Arbeitsfeld in der EU-Bürokratie, ein perfektes politisches Spiel. Dasselbe findet sich in Russland: Präsident Dmitri Medwedjew hat in diesem Jahr die Zeitumstellung abgeschafft, Russland behält jetzt dauerhaft die Sommerzeit. Der russische Präsident befasst sich mit allem Möglichen, bloß nicht mit wirklich dringenden Dingen. Als ob es in Russland nichts Wichtigeres gäbe. Die EU sollte ihre Zeit mal lieber darauf verwenden, sich über ihre Zukunft Gedanken zu machen. Denn die Zeit dafür wird immer knapper.

Jürgen Rinderspacher, 63, ist Sozialwissenschaftler an der Uni Münster. Er erforscht Zeit

Wenn wir den vermeintlich alten, guten – weil natürlichen – Zustand wiederherstellen, werden andere – Menschen, Wirtschaft, Länder – darunter leiden. Wir sollten die Illusion einer natürlichen Zeitordnung, die es nie gegeben hat, aufgeben. Auch wenn laut offizieller Definition Mittag immer dann ist, wenn die Sonne am höchsten steht. Natürlich – das ist nur der Hell-Dunkel-Rhythmus selbst, alles andere ist Konvention. Vielleicht wäre es gar nicht so unklug, sich ein Phänomen unserer zweiten Natur ausnahmsweise mal positiv anzueignen. Die Zeitumstellung hat kollektive rituelle Qualitäten, nach denen wir im Zeitalter der Radikalindividualisierung doch oft suchen: Winteranfang, vorbei der schöne Sommer, die dunkle Zeit beginnt – aber auch die Zeit des Kekseknabberns und Punschtrinkens. Und der Gewissheit, die nächste Zeitumstellung kommt: Es wird bestimmt wieder Sommer.