Wirtschaft im freien Fall

Die neue Regierung und die EU propagieren eine katastrophale Sparpolitik in der Ukraine

■ leitet seit Februar 2014 das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kiew. Zuvor war er Referent für Südosteuropa der Stiftung in Berlin. Er hat Politik- und Rechtswissenschaften in Bonn und an der Sciences Po in Paris studiert und war 2004/2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin.

■ Der Text ist ein überarbeiteter und aktualisierter Ausschnitt aus: „Der ‚Euromaidan‘ – ein Jahr danach. Bilanz eines ukrainischen Epochenjahres“ (2015).

Ein Jahr nach dem „Euromaidan“ stellt sich die Frage nach der ökonomischen Situation der Ukraine. Nach Angaben der ukrainischen Notenbank ist die Wirtschaftsleistung 2014 um 7 Prozent im Vergleich zum Vorjahr geschrumpft. Das ist der schlimmste Einbruch seit der weltweiten Wirtschaftskrise 2008/09, von der sich die Ukraine noch gar nicht richtig erholt hatte.

Hinzu kommen die Zerstörungen aufgrund des Krieges im Osten des Landes. Nach UN-Angaben gibt es mittlerweile mehr als 600.000 Binnenflüchtlinge, die auf absehbare Zeit nicht in ihre Heimat zurückkehren können. Zudem zeichnet sich eine Krise am Arbeitsmarkt ab, denn auf kleinerem Terrain konkurrieren nun, relativ gesehen, mehr Menschen. Und schließlich lässt die Staatsverschuldung eine Refinanzierung nicht mehr am Anleihenmarkt, sondern nur noch über die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) oder IWF- und EU-Hilfspakete zu. Daneben ist auch die ukrainischen Währung (Hrywnja) im Laufe des Jahres 2014 abgestürzt, ihr Wert hat sich gegenüber dem US-Dollar und dem Euro halbiert.

In dieser desolaten Situation und bei Mindestlöhnen von aktuell 54,50 US-Dollar scheint der übliche austeritätspolitische Ansatz westlicher Geber kein adäquater Lösungsansatz zu sein. Gleichwohl wird er weitgehend unhinterfragt nicht nur von den westlichen Ländern propagiert, sondern auch von der neuen ukrainischen Regierung selbst – meist unter Verweis auf die gebotene Geschwindigkeit „angesichts der russischen Bedrohung“.

Bezeichnenderweise wurde von der Übergangsregierung im Frühjahr sogleich der georgische Verfechter neoliberalen Wirtschaftens, Kacha Bendukidse, als Wirtschaftsberater in die Ukraine geholt. Er hatte zuvor Expräsident Saakaschwilis Kampf gegen jegliche Marktregulierung angeführt. In der Ukraine jedoch gelang es ihm bis zu seinem plötzlichen Tod am 13. November 2014 nicht, eine vergleichbare Wirkung zu entfalten. So wurden in der Ukraine die meisten vom IWF vorgeschlagenen Reformen nicht einmal angegangen, was die Beharrungskräfte des alten ukrainischen Elitengeflechts beweist. Von der Prioritätenliste des damaligen IWF-Abteilungsleiters für Europa, Moghadam, wurde einzig im Bereich der „öffentlichen Ausschreibungen“ und der Reform der Steuerverwaltung etwas Vorzeigbares abgearbeitet.

Angesichts der katastrophalen Auswirkungen der Austeritätspolitik innerhalb der EU stellt sich die Frage, warum die in Südeuropa (Griechenland, Portugal und Spanien) begangenen Fehler nun in der demnächst assoziierten Ukraine wiederholt werden müssen? Will Deutschland – und damit die ihm meist folgende EU – auch in der Ukraine eine weitere „verlorene Generation“ produzieren? Oder soll angesichts des Fachkräftemangels in Nord- und Mitteleuropa gar die Hoffnung der Ukrainer auf ein besseres Leben dazu genutzt werden, vom dem zu erwartenden Braindrain zu profitieren? Es sei daran erinnert, dass seit der staatlichen Unabhängigkeit etwa 6 Millionen Ukrainer das Land verlassen haben. Für sie war das der einzige Ausweg aus ihrer Misere.

Gibt es nun eine Gegenkraft zu dieser Wirtschaftspolitik der Regierung und der EU? Eher nicht, denn die ukrainischen Gewerkschaften sind sehr geschwächt. Sie mussten wegen der Ereignisse im Februar in Kiew und im Mai in Odessa erhebliche materielle Einbußen hinnehmen. Zwei ihrer Häuser gingen in Flammen auf. Sie mussten außerdem den Betrieb von Ferienheimen auf der nun annektierten Krim einstellen. In der Folge waren sie gezwungen, ihre internen Budgets um bis zu 40 Prozent zu kürzen und Mitarbeiter zu entlassen.

Das kam zu den ohnehin vorhandenen Problemen hinzu: dem Mitgliederschwund aufgrund von Überalterung, der Marginalisierung einst dominanter industrieller Branchen (die aufgrund der Situation im Donbas weiter zugenommen hat) sowie den inneren Konflikten unter den konkurrierenden Gewerkschaftsbünden. All das bringt sie nicht in die vorteilhafteste Position für den anstehenden Reformprozess.

Nachdem die alte Regierungspartei Partei der Regionen zuweilen in paternalistisch-populistischer Weise (Arbeits)gesetzgebung betrieb, wird nun mehr und mehr offenbar, dass die Gewerkschaften in der neuen Regierung keine vergleichbaren Ansprechpartner gefunden haben. So kursieren seit Sommer 2014 Gesetzesvorhaben zur Beschneidung der althergebrachten Einspruchsrechte der Gewerkschaften bei Entlassungen, zur faktischen Abschaffung der ohnehin nur noch auf dem Papier existierenden staatlichen Arbeitsinspektion sowie zur Aufhebung der Mitwirkungsrechte in der Verwaltung der Sozialkassen. Nur wegen der Diskontinuität des Parlamentsbetriebs wurden diese Vorhaben noch nicht verabschiedet.

Bezeichnenderweise haben aber auch die Aktivisten des „Euromaidan“ es bisher nicht vermocht, eigene Reformmodelle für die ukrainische Wirtschaft aufzuzeigen. Ihre wirtschaftspolitischen Forderungen erschöpf(t)en sich nahezu ausschließlich im Ruf nach einem Ende der Korruption. Nur einige Kandidaten der überraschend ins ukrainische Parlament eingezogenen Parteiliste Samopomich (Selbsthilfe) machen hier eine Ausnahme.

Ansonsten folgt der Maidan-Mainstream in undifferenzierter Weise dem in Westeuropa vorherrschenden neoliberalen Diskurs und schaut – abermals aufgrund des geringen Vertrauens in das bisherige Handeln der ukrainischen Politik – auf die EU als „Aufpasserin“ bei den durch das Assoziierungsabkommen nötigen Anpassungsprozessen.

In die Umsetzung des Freihandelsabkommens mit der Europäischen Union (DCFTA) sollen entlang der 15 Unterkapitel mittels begleitender „Plattformen“ und Arbeitsgruppen sowohl die Sozialpartner als auch NGOs eingebunden werden. Trotz der berechtigten grundsätzlichen Kritik an der Involvierung zivilgesellschaftlicher Akteure in den closed shop des sozialen Dialogs bleibt angesichts des Zustandes der Gewerkschaftsbewegung vielleicht als einzige Hoffnung, dass später Teile der NGOs und der Gewerkschaften eine Allianz zugunsten der arbeitenden Bevölkerung bilden.

Zudem ist auf EU-Seite der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) das Partnerorgan bei der Implementierung des DCFTA, was in dieser Konstruktion eine komplette Neuheit darstellt. Es ergibt sich daraus für die kritische Begleitung und Beeinflussung des Implementierungsprozesses also zumindest die Chance, politisch „über die Bande“ der Arbeitnehmerseite des EWSA zu spielen.

Innerukrainisch liegt im Zuge der angestrebten Dezentralisierung des Landes einige Hoffnung in der Aktivierung der bereits existierenden regionalen dreiseitigen Räte des sozialen Dialogs im Sinne eines aus der Not geborenen Neokorporatismus. Denn es liegt auf der Hand, dass – letztlich im Zuge des weiteren Lernprozesses – sozial abgefederte Reformen im Sinne des Rheinischen Kapitalismus und des oft propagierten „europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells“ einer Schocktherapie nach russischem Vorbild der 1990er-Jahre vorzuziehen sind. Ansonsten besteht schlicht die Gefahr einer neuen, diesmal sozial begründeten Protestbewegung.

Eine weitere noch offene, aber keineswegs unwichtige Frage ist, ob und wann die neuen ukrainischen Verantwortlichen sich endlich auf die verstärkte Suche nach den von der „Familie“ Janukowitsch abgezweigten Geldern machen, die auf dem „Euromaidan“ bekanntlich ebenfalls als Grund für den Aufstand galten.

Laut den von der Übergangsregierung Ende April 2014 in die Welt gesetzten Meldungen soll es angeblich um eine Summe von 100 Milliarden US-Dollar gehen, die veruntreut beziehungsweise gestohlen wurde. Zum Vergleich: Der ursprüngliche Staatshaushalt für 2014 sah Ausgaben von rund 21 Milliarden US-Dollar vor. Janukowitsch und seine Getreuen hätten also in nur vier Regierungsjahren unbemerkt oder besser ungehindert drei komplette ukrainische Staatshaushalte in die eigenen Taschen lenken können – eine ganz neue Bedeutung des Wortes „durchregieren“.

Nach der anfänglichen Aufregung ist es inzwischen um diese Frage ruhiger geworden, außer dass man die „Familie“ mit der Finanzierung des Separatismus in der Ostukraine sogleich in Verbindung brachte. Sollten tatsächlich solche Summen im Raume stehen, dann müsste es doch möglich sein, diese einzufrieren und dem notleidenden Haushalt 2015 zukommen zu lassen. Aktuelle Informationen hierzu aber lassen daran Zweifel aufkommen: Das Basel Institute on Governance, eine schweizerische NGO, hilft dabei, das Geld ausfindig zu machen – mit bescheidenem Erfolg. Bisher hat die Schweiz nur etwa 200 Millionen US-Dollar auf 29 Konten ukrainischer Staatsbürger einfrieren lassen.