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Archiv-Artikel

Inselhopping und Seafood bei Boston

Als 1620 die strenggläubigen Pilgerväter in Provincetown landeten, konnten sie nicht ahnen, dass die Stadt zum berühmtesten Pilgerort für Schwule und Lesben werden würde. Eine Reise nach New England mit seiner Dünenlandschaft, der Millionenstadt Boston und dem elitären Cambridge

BOSTON-TIPPS

Boston in Neuengland ist eine der ältesten und wohlhabendsten Städte der USA. Die Stadt wurde 1630 von englischen Puritanern auf einer Halbinsel gegründet. Bekannt wurde die Stadt durch die Boston Tea Party vom 16. Dezember 1773. Damals lösten Proteste gegen eine Erhöhung der Teesteuer durch das britische Parlament den Unabhängigkeitskrieg aus. Informative Websites: www.bostonusa.com www.hmnh.harvard.edu www.visitnewengland.com www.massvacation.com Information: Vertretung des Fremdenverkehrsamtes: Discover New England c/o Buss Consulting, Wildfred Buss, Postfach 1213, 82319 Starnberg, Tel: (0 81 51) 73 97 74, Fax: 73 97 85

Diese Reise wurde finanziert durch FTI, Air France und das Fremdenverkehrsamt Discover New England.

VON ROLAND F. KARL

Vom Meer lebten die Menschen auf der Halbinsel Cape Ann, ohne Radar, GPS oder Funkverbindung. Und das war in den rauen Nordatlantikgewässern ein gefährliches Geschäft: Viele Fischer aus der Region Gloucester verloren dabei ihr Leben. Ein Segeltörn auf dem Zweimast-Schoner „Thomas E. Lannon“ demonstriert diese Unwirtlichkeit: Es gießt in Strömen, kräftige Windböen fegen über die gerade noch liebliche Küstenlandschaft aus Stränden, Sandbuchten und winzigen Inseln. Im Nu ist ein nordseeumtostes Nordfriesland entstanden.

Schweinshaxenmäßig läuft in der Nachbargemeinde Essex der so harmlos klingende Programmpunkt „frische Meeresfrüchte“ ab, bei Woodman’s, A Yankee Tradition since 1914: Nachdem Gran’pa Chubby’s ureigene Erfindung (in heißem Öl gebackene Muscheln) zum Erfolg wurde, betreibt der Familienclan Opas rustikale Fresshalle profitabel weiter. An strengen Tagen packen über vierzig Woodmans mit an, wenn in den dampfbrodelnden Kesseln am Straßenrand bis zu 600 Nordatlantik-Hummer lebendigen Leibes zum Färben versenkt werden und bis zu 2.000 Besucher pro Tag Wartezeiten von anderthalb Stunden in Kauf nehmen. Die Namen seiner VIP-Gäste gibt Chef-Garer Steve Woodman nicht bekannt, aber „die sitzen hier auf den einfachen Holzbänken wie alle anderen auch“.

Damit Tagesbesucher aus Boston und New York nicht nur mit vollen Seafood-Bäuchen nach Hause fahren, haben sich in dem winzigen Nest rund drei Dutzend Antiquitätengeschäfte etabliert, die Woodman’s gerne den Vortritt lassen: Nach Hummer, Krabben und Muscheln satt findet der anschließende Einkaufsbummel, Credit cards welcome, spendierfreudig statt. Auf dreizehn Galerien bringt es die Künstlerkolonie Rocky Neck gleich nebenan, die mit ihren bilderbuchhaften Holzhäuschen am Smith’s Cove schon atmosphärisch jeden Geldbeutel knackt und durch eine mystisch-schöne Umgebung zahlreiche Maler und Galeristen angelockt hat.

Die Nacht im „Hawthorne Hotel“, Salem, wird unruhig. Nicht weit entfernt steht das „House with the Seven Gables“ aus dem gleichnamigen Roman des US-amerikanischen Klassikers Nathaniel Hawthorne, der die erbarmungslose Jagd seiner streng puritanischen Vorfahren auf Hexen im 17. Jahrhundert zum Thema machte, was dem Küstenörtchen ein illustres Witch Museum (Hexenmuseum) sowie das nicht minder gruselige Frankenstein’s Laboratory bescherte.

Neunzig Minuten lang rauscht die Schnellfähre der Bay State Cruise Company quer über die Massachusetts Bay, bevor erste Sandstreifen mit Leuchttürmen und strandhaferbewachsene Dünenlandschaften in Sicht kommen und der Katamaran an den Docks von Provincetown, Cape Cod, festmacht. On route: Dutzende Finnwale und Buckelwale, die in der Bucht reichlich Nahrung finden und fontäneblasend aus dem Blau des Atlantiks auftauchen.

Als 1620 die strenggläubigen Pilgerväter in Provincetown landeten, konnten sie nicht ahnen, dass ihr „P-Town“ einmal zum berühmtesten Pilgerort für Schwule und Lesben aus aller Welt werden würde. Im Schlepptau Prominenter wie Edward Hopper, Eugene O’Neill und Tennessee Williams ließen sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Künstler aller Couleur im liberal denkenden Provincetown nieder, woraufhin das niedliche Küstenstädtchen (einst einer der größten Seehäfen des Landes) am nördlichen Zipfel der dünnen, ellbogenförmigen Halbinsel „hipp“ wurde – was das Preisniveau für Grundeigentum zu den saftigsten der USA werden ließ; zum größten Teil befinden sich P-Towns hübsche Clapboard-Holzhäuser heute in den Händen seiner Gay Community. Gepflegtes Understatement lässt selbst millionenschweren Besitz, gediegener Meerblick inklusive, etwas preiswerter aussehen.

Von hier aus ließe sich über den Kings Highway die gesamte Cape-Cod-Halbinsel abfahren, durch verträumte Küstenlandschaften. Zum Beispiel bis nach Sandwich hinunter, einer pittoresken typischen New England Seaside-Town, 22.000 Einwohner, die sich mit Schöner Wohnen & Noch Schöner Leben präsentiert, umgeben von Meeresbuchten und idyllischen Seen.

„Im Sommer“, merkt Arthur R. Ratsy vom Cape Cod Chamber of Commerce an, „steigt die Zahl der 225.000 Einwohner Cape Cods durch zahlreiche Zweitwohnsitze und Ferienhäuser auf 650.000.“ Die Statistik zähle pro Jahr an die fünf Millionen Besucher, das heißt, fügt er grinsend hinzu, „wenn ihr ins Paradies wollt, kommt lieber außerhalb der offiziellen Besuchszeiten!“

Was auch für Plymouth gilt, dem Landeplatz der „Mayflower“ und dem heutigen Ankerplatz ihrer Replika, der Mayflower II., die 1957 in England gebaut und historisch korrekt von Plymouth in England über den Atlantik nach Plymouth in Massachusetts gesegelt wurde. Dort stehen Schulklassen und US-Patrioten in langen Schlangen vor der Gangway. In Hyannis Port liegt der einstmals publizistisch präsente Sommer-Sitz der Kennedys. US-Präsident JFK war es, der den Cape Cod Seashore Nationalpark initiierte und 1961 eröffnete, um die weiten Dünen- und Strandlandschaften vor einem Immobilien-Hype zu bewahren.

Natürlich gibt es noch zahlreiche weitere Inseln, die per Fähre leicht zu erreichen sind (von Hyannis Port aus), wie Martha’s Vineyard oder Nantucket, sowie ganz kleine, verschwiegene Paradiese, die auf der Karte der Massachusetts Bay nur als winzige Stecknadelköpfe auszumachen sind. Am Ende wartet auf Besucher aus Übersee zwangsläufig Bostons Logan International Airport. Und mit Boston die moderne Skyline der 4,5 Millionen starken Schlagader New Englands.

Mit der U-Bahn geht es unter dem Charles River hindurch nach Cambridge, um wenigstens den ehrwürdigen Campus der legendären Kaderschmiede Harvard zu durchschreiten, die immerhin sieben US-Präsidenten sowie zahlreiche gekrönte wie ungekrönte, in jedem Fall aber gewichtige Häupter hervorgebracht hat. Für Interessierte hier die spannende Information: Ein edukativer Selbstversuch kostet 45.920 US-Dollar Schulgeld pro Studienjahr. Vielleicht sollte man vor dem elitären Massachusetts Institute of Technology (MIT), das der reichste Häuptling aller Zeiten, Microsoft-Gründer Bill Gates, seine Alma Mater nennt, einen kleinen Moment innehalten. Stinknormal ist das alles hier, weil die Bildungsindustrie mit 68 Universitäten und Colleges und 250.000 Studenten den größten Wirtschaftszweig Greater Bostons stellt.

„Wir haben den Donut erfunden, aber auch George Bush“, frotzelt Larry Meehan von Boston Tourism im 50. Stockwerk des Prudential Building über seine Pilgerväter-Gründerstadt, „sowie den Computer. Deshalb kostet ein bescheidenes Back-Bay-Appartment mit Blick auf den Charles River zwischen 500.000 und drei Millionen. Ihr müsst“, jetzt wird er enthusiastisch und scheucht seine Besuchertruppe im 360-Grad-Galopp rund um die Aussichtsplattform, „unbedingt in die Newbury Street!“

Dort drängen sich Boulevard-Cafés, Boutiquen, Antiquitäten, Kitsch & Kunst eng aneinander. Sein gestreckter Zeigefinger erwischt das Stadion der kampferprobten „Red Socks“, Bostons Baseballmannschaft, auf die hier niemand etwas kommen lässt, dann folgen die gewaltige Kuppel der Christian Science Mother Church, Bostons Stadtpark The Common sowie Beacon Hill, die vornehmste Wohnadresse, und schließlich The Big Dig, die 17 Milliarden teure und vier Kilometer lange Untertunnelung Bostons, die aus der platt gemachten Stelzenautobahn nun die herrlichsten Parklandschaften schafft.

Aber was ist das alles schon gegen das da draußen im Atlantik, gegen Inseln und Halbinseln, weite Dünenlandschaften und die spürbare Reduzierung des Zeittakts in hübschen Seaside-Towns?

Was könnte besser als ein Cape Cod Sunset sein, auf einer hölzernen Veranda in Provincetown, mit Blick auf Sandzungen, Fischerboote und Leuchttürme, wenn irgendwoher Eva Cassidys „Fields of Gold“ erklingt und der glühende Ball passend zum weichspülenden Woodstock-Sound blutrot im Meer versinkt?