Ein Angriff auf die offene Gesellschaft

ATTENTAT Während der Ablauf der Mordanschläge in Dänemark immer klarer wird, sind die Motive des getöteten mutmaßlichen Täters weiter unklar. Sicher ist aber: Für die Polizei war er kein Unbekannter

AUS STOCKHOLM REINHARD WOLFF

„Wo gibt es eine Grenze? Gibt es eine Grenze? Soll man sein Leben als Künstler oder Aktivist aufs Spiel setzen?“ So hieß es in der Ankündigung der Veranstaltung zum Thema „Kunst, Blasphemie und Meinungsfreiheit“, zu der der schwedische Künstler Lars Vilks für Samstagnachmittag in das im Kopenhagener Stadtteil Østerbro liegende Kulturhaus „Krudttønden“ (Pulverfass) eingeladen worden war. Wie berechtigt die Frage „Haben wir das Recht blasphemisch zu sein? Und wagen wir es nach dem Terrorangriff auf Charlie Hebdo noch?“ sein sollte, stellte sich kurz nach Eröffnung dieser Veranstaltung heraus.

François Zimeray, der französische Botschafter in Dänemark, hatte gerade in einigen einleitenden Sätzen für die dänische Solidarität nach dem Attentat gegen die französische Satirezeitschrift gedankt. Noch bevor er das Wort an Vilks übergeben konnte, waren Schüsse zu hören. „Ich warf mich auf den Boden, rief die Polizei an und schrie: Schickt alles, was ihr habt“, erzählt Veranstaltungsteilnehmer Palle Vedel der Zeitung Berlingske Tidende.

Vilks und der Botschafter wurden von ihren Leibwächtern durch eine Hintertür aus dem Saal gebracht. Zusammen mit der Moderatorin der Veranstaltung, der Journalistin Helle Merete Brix, versteckte sich Vilks in einem Kühlraum. „Wir hielten uns an der Hand und erzählten uns schlechte Scherze“, berichtet sie: „Vilks war ganz entspannt, und seine Leibwächter machten einen tollen Job.“

In den von Polizei bewachten, mit Metalldetektoren geschützten Versammlungsraum selbst gelangte der Attentäter nicht. Seine Schüsse feuerte er vor dem Kulturhaus durch dessen Glastür ab. Auf einer Tonaufzeichnung der BBC kann man binnen zwei Minuten etwa 40 Schüsse hören, die Polizei spricht von 200. Dabei wurde ein 55-jähriger Mann durch eine Kugel in die Brust getötet. Einzelheiten dazu und Angaben zu seiner Person gab es offiziell nicht. Laut Ekstrabladet soll es der Filmproduzent Finn Nørgaard sein.

Auch zwei dänische Polizisten und ein schwedischer Kollege erlitten Schussverletzungen. Bilder von Überwachungskameras sollen einen vermummten Mann zeigen, der mit dem Fahrrad zum Versammlungsort kam. Zeugen berichteten, er habe versucht, seine Waffe hinter einer Zeitung zu verbergen.

Zwei Stunden nach diesem Attentat, das kurz vor 16 Uhr stattfand, veröffentlichte die Polizei eine Fahndung nach einem 25 bis 30 Jahre alten Mann „mit arabischem Aussehen“. Es beginnt ein umfassender Polizeieinsatz. In ganz Kopenhagen herrscht Ausnahmezustand. Schwedische und deutsche Polizei verstärkten die Überwachung der Grenzen zu Dänemark.

Gegen 1 Uhr am Sonntagmorgen kam es vor Dänemarks größter Synagoge in der Innenstadt Kopenhagens zu einem weiteren Schusswechsel. Der 37-jährige Wachmann Dan Uzan, ein Mitglied der jüdischen Versammlung, stellte sich einem Mann entgegen, der in das Gebäude eindringen wollte. Der Versuch misslang, aber Uzan wurde durch einen Kopfschuss getötet, zwei anwesende dänische Polizeibeamte wurden durch Arm- und Beinschüsse verletzt.

In der Synagoge fand eine Bar Mitzwa statt, eine jüdische Mündigkeitsfeier für 13-jährige Jungen. Etwa 80 Personen waren anwesend. Der Wachmann und die Polizisten waren zum Schutz der Synagoge eingesetzt, deren Bewachung ebenso wie die aller dänischen Synagogen nach den Vorgängen in Paris und Brüssel verschärft worden war.

Gegen fünf Uhr am Sonntagmorgen wurde im Stadtteil Nørrebro in Bahnhofsnähe eine Person von einem Einsatzkommando erschossen. Laut Polizeiangaben war die Wohnung eines Verdächtigen observiert worden. Den Hinweis habe man von einem Taxifahrer bekommen, der einen Mann, auf den die abendliche Fahndungsbeschreibung gepasst habe, kurz nach dem Attentat auf die Vilks-Veranstaltung zu dieser Adresse gefahren hatte.

Er war für die Polizei „kein Unbekannter“. Als dieser Verdächtige sich ihnen auf der Straße genähert habe, hätten die Beamten versucht, „mit ihm Kontakt aufzunehmen“, woraufhin dieser das Feuer eröffnet habe. Auf einer Pressekonferenz drei Stunden später teilt die Polizei mit, der Getötete sei die Person, die „mit allergrößter Wahrscheinlichkeit“ für die Attentate verantwortlich sei. Einzelheiten zu seiner Person werden nicht veröffentlich – auch weil die Polizei weiter ermittelt und „noch viele lose Fäden“ sieht.

Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt hatte bereits am Samstagabend in einer ersten Stellungnahme von „politischem Mord“ und einer „zynischen Terrortat“ gesprochen. Am Sonntagvormittag dankte sie der Polizei auf einer Pressekonferenz für ihren Einsatz. „Wir haben als Nation Stunden erlebt, die wir nie vergessen werden. Wir haben den grausamen Geschmack von Angst und Ohnmacht gespürt, den der Terror erzeugen will. Aber wir haben auch zurückgeschlagen.“

Noch kenne man die Motive nicht, doch man wisse, dass Kräfte am Werk seien, die „gegen unseren Glauben an Freiheit und die Gleichheit der Menschen kämpfen“. Es gehe nicht um einen Kampf des Islam gegen den Westen oder von Muslimen gegen Nichtmuslime, sondern um einen Kampf zwischen „Freiheit und dunkler Ideologie“. Dänemarks Antwort sei, sich nicht einschüchtern zu lassen, sondern „unsere Demokratie zu verteidigen“. Niemand solle glauben, er könne ungestraft die „offene, freie und demokratische Gesellschaft angreifen“.

Dan Rosenberg Asmussen, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Kopenhagens, sagte der Zeitung Ekstrabladet: „Ich bin schockiert. Wir sind alle schockiert. Es nutzte nichts, dass wir bewaffnete Polizei und eigene Wächter hatten. Das Ganze fühlt sich an wie die albtraumhafte Wiederholung dessen, was sich in Paris ereignet hat. Wir haben davor gewarnt. Und wir haben befürchtet, dass sich das in Dänemark ereignen kann.“

Der Charlie Hebdo-Journalist Patrick Pelloux twittert: „In Kopenhagen neuer Horror gegen Presse und Kultur. Die Reaktion der Demokratie muss jetzt eindeutig sein.“