: Gefangene des Diskurses
Beim Gedenken an die „Stammheimer Todesnacht“ stritt ein linkes Netzwerk mit seinem Publikum
Am 18. Oktober 1977 wurden die RAF-Mitglieder Jan-Carl Raspe, Gudrun Ennslin und Andreas Baader tot in ihren Zellen im Gefängnis Stuttgart-Stammheim aufgefunden. 30 Jahre nach dem „Deutschen Herbst“ zweifelt inzwischen kaum noch jemand daran, dass die Gefangenen Selbstmord verübten. Das „Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen“ glaubt das nicht und lud am Samstag zum Gedenken an die „Stammheimer Todesnacht“ mit ehemaligen Gefangenen aus der RAF und Zeitzeugen.
Schon im Vorfeld sorgte die Veranstaltung im Kreuzberger Tommy Weissbecker Haus für Aufsehen in Medien und Politik. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble äußerte, er sei empört darüber, dass hier „Terroristen verherrlicht werden“. Denn auf den Veranstaltungsplakaten wurden die toten RAF-Mitglieder als „Gefallene aus dem revolutionären Widerstand“ bezeichnet.
Über diese Wortwahl gab es am Samstag auch unter den über 200 BesucherInnen der Veranstaltung einigen Diskussionsbedarf. Hier waren MittzwanzigerInnen in der Überzahl, die RAF und Deutschen Herbst lediglich aus Büchern, Filmen und Ausstellungen kennen. Sie hatten andere Fragen an die Geschichte als Moderator Wolfgang vom Netzwerk, der sich während des Deutschen Herbstes politisierte und sich seitdem in der Gefangenensolidarität engagiert. Wolfgang, der seinen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen will, erklärte, dem 2006 gegründeten Netzwerk ginge es um einen Kontrapunkt zu der aktuellen Darstellung der bewaffneten Gruppen und der Gefangenenkämpfe.
Einhelligen Applaus gab es zunächst für den Schriftsteller und ehemaligen Wahlverteidiger von Andreas Baader, Peter O. Chotjewitz. Er sprach über die massiven Grundrechtseinschränkungen, denen 1977 nicht nur die Gefangenen und ihre AnwältInnen ausgesetzt waren, sondern die gesamte außerparlamentarische Linke. Doch nachdem die vorbereitete Videoübertragung von Netzwerkveranstaltungen aus Brüssel und Zürich aus technischen Gründen ausfiel, begann eine vehemente Diskussion über die Wortwahl der Mobilisierungsplakate und Wortbeiträge der VeranstalterInnen. Der Begriff „Gefallene“, so die Kritik, wurde bisher für Soldaten in den beiden Weltkriegen benutzt und sei in einer Debatte über die toten RAF-Mitglieder fehl am Platze. Trotz der offensichtlichen Schwierigkeiten, eine gemeinsame Sprache mit einem Großteil des Publikums zu finden, sehen die OrganisatorInnen die Veranstaltung nicht als gescheitert an. „Es war gut, dass die offenen Fragen und Widersprüche auch geäußert wurden“, meint Wolfgang. Ob das alle im Publikum so gesehen haben, muss bezweifelt werden. Der Saal hatte sich schon vor dem Ende der Veranstaltung um ein Drittel geleert.
PETER NOWAK