: WIR:HIER
Kapitel 16
Matteo und Laura telefonierten in den nächsten Tagen ein paarmal, einmal hatten sie sich kurz getroffen, und mit jedem Gespräch verschwand die neue Fremdheit zwischen ihnen ein kleines Stückchen. Fast war es wie vor dem Sonntag in der Wohnung seiner Tante. Hauptthema ihrer Unterhaltungen waren die Tunnelpläne. Viel mehr als er konnte sie damit auch nicht anzufangen.
„Na ja, das ist halt ein alter Plan. Wer weiß, wie das heute aussieht. Und irgendwelche geheimen Kammern oder so kann ich nirgendwo erkennen. Was genau suchen wir noch gleich? Gold? Kunstschätze? Juwelen?“
Aber immerhin wusste sie, wo sie mehr erfahren würden – in der Staatsbibliothek. Matteo betrat den großen gelben Bau an der Potsdamer Straße zum ersten Mal und fühlte sich völlig erschlagen, während sie durch die verschiedenen Abteilungen schlenderten.
„Oh Mann, ist das, was wir brauchen, eher Kartografie oder Geschichte oder Bauwesen oder Politik?“
„Wir müssen fragen. Komm mit.“
„Entschuldigung, wir wüssten gerne mehr von den Tunnelbauten in Berlin zwischen 1933 und 1945.“
Der ältere Herr hinter dem Informationsschalter sah sie über seine goldene Brille hinweg freundlich an.
„Seminararbeit 1. Semester oder Referat für die Schule?“
„Referat im PW-Leistungskurs. Thema ist der Anhalter Bahnhof in der Nazizeit.“
„Mmh, ah ja, sehr interessante Geschichte. Die ganzen unnötigen Toten …“
„Was für Tote?“
„Ach, das findet ihr alleine raus. Ihr wollt ja was lernen. Fangt am besten hier an.“ Er schob ihnen einen mit römischen Ziffern und Buchstaben bekritzelten Zettel rüber.
Matteo und Laura suchten auf der Stelle die Expertin. „Wenn das ihr Spezialgebiet ist: Man soll immer den kürzesten Weg nehmen, um an Informationen zu kommen.“ „Zweiter Stock. Falls ihr dort nicht weiterkommt, fragt die junge Frau mit den blonden Haaren. Ist ihr Fachgebiet.“
„Ach, soll man das?“
„Kommt von meinem Vater.“ Aus der Abteilung: „Laura, bei mir, da lernst du was fürs Leben.“ Während meine Mutter eher die Schiene fährt: „Laura, du musst auch was erleben, solange du jung bist.“ Wobei für sie „Erleben“ nur zählt, solange man daraus irgendwie Kapital für die Zukunft schlagen kann.“
„Okay. Hört sich strange an. Und warum kennst du dich hier so gut aus?“
„Na, gegenüber ist doch die Nationalgalerie.“ Sie guckte ihn an, sah, dass er das wusste und seufzte. „Prinzesschen ist jahrelang in Konzerte und Ausstellungen geschleppt worden. Und in theaterpädagogische Feriengruppen für Kinder im Museum. Meine Eltern meinten, das gehöre zur Allgemeinbildung. Einmal im Monat war Pflichttermin in der Bücherei, und die sind immer nach dem gleichen Prinzip aufgebaut.“
So hatte Matteo Laura noch nie über ihre Familie reden hören. Es war alles viel einfacher geworden, seit ihre komische Befangenheit verschwunden war. Der überraschende und bisher einmalige Sex hatte Türen geöffnet, durch die sie ziemlich cool miteinander reden konnten.
„Du hast es gut.“
Laura lachte. „Nee, wirklich nicht. Das ist kein Spaß. Das ist knallharte Kulturerziehung. Hat nix mit Unterhaltung, Vergnügen oder Genuss zu tun. Dann ist es nämlich keine Kultur mehr, sondern nur profane Ablenkung. Und die berieselt nur.“
Während sie in den zweiten Stock stiegen, dachte Matteo nach. Es ist zwar nicht so, dass Mama so eine Prolltussi ist, die jeden Tag auf dem Sofa vor der Glotze hockt und RTL 2 guckt. Aber was, mal abgesehen von ihrer persönlichen, echt kranken Entwicklung, ist ihr eigentlich wichtig? Also bei meiner Erziehung? „Matti, du musst unbedingt darauf achten, dass deine Zähne in Ordnung sind. Die sind dein Aushängeschild.“ Ist jetzt aber nicht so eine Leistung, der Spruch, als Zahntechnikerin. Und saubere Schuhe soll ich immer haben. Papa ist mehr für Sport. Hab ich den schon mal mit einem Buch gesehen? Nö! Warum ich Vegetarier bin, hat er auch noch nie gefragt. Und tief greifende Gespräche gibt es mit keinem von beiden. Dad hat mich manchmal mit ins Schwimmbad und in den Badminton-Verein genommen, das war schön, aber zu einem Konzert, ins Museum oder Theater sind wir nie gemeinsam gegangen. Vielleicht wäre das anders, wenn sie sich nicht hätten scheiden lassen? Vielleicht hatten sie danach einfach keine Zeit mehr und zu viele Probleme.
Laura klopfte ihm auf den Hinterkopf. „Hallo? Ist wer zu Hause? Ich hab dich was gefragt.“
Matteo schreckte hoch. „Ja, alles klar. Ich hab nur nachgedacht. Und“, er machte eine kurze Pause, „meine Eltern verteidigt, weil wir so was nie gemacht haben.“
„Was meinst du? So Kulturkram? Und vor wem hast du die verteidigt? Vor meinen Alten?“
„Ja, ich glaub schon. Bescheuert!“
„Das kannst du laut sagen. Ich hätte liebend gerne andere. Die sind einfach nur schleimig und total verlogen. Was ist jetzt eigentlich mit deiner Mutter?“
„Wieso? Nix ist mit der.“ Matteo bekam sofort schlechte Laune und seine Stimme wurde schrill.
„Jawohl. Jedes Mal, wenn das Thema auf deine Mutter kommt, rastest du aus. Ist die so fett, dass sie nicht mehr laufen kann, oder behindert oder geht die auf den Strich? Irgendwas ist bei euch doch überhaupt nicht in Ordnung. Rück endlich mal raus mit der Sprache. Ich läster schließlich auch über meine Alten.“
„Du bist so eine bescheuerte Kuh. Du kannst mich mal!“ Er ließ Laura einfach stehen, drehte sich um und rannte die Treppen hinunter zum Ausgang. Sex hin oder her. So gut, dass er etwas über seine Mutter erzählen würde, oder besser gesagt, dass er DAS von seiner Mutter erzählen würde, verstanden sie sich dann doch nicht.
Sarah Schmidt, publizierte bereits diverse Bücher und ist in zahlreichen Anthologien vertreten. Ihr aktueller Roman: „Eine Tonne für Frau Scholz“ ist im Verbrecher Verlag erschienen und in der Hotlist der 10 besten Bücher aus unabhängigen Verlagen 2014. Für die taz schreibt sie den Fortsetzungsroman WIR:HIER www.sarah-schmidt.de