: „Wer leben will, erhebe seine Stimme“
FREIHEIT „Stuck Rubber Baby“ erzählt von Rassismus und Homophobie während der US-Bürgerrechtsbewegung. 16 Jahre nach seinem Erscheinen ist die Neuauflage des Comics noch immer ein epochales Ereignis
VON WALDEMAR KESLER
Es kommt selten vor, dass Comicleser auf eine Neuauflage so gespannt warten durften wie auf eine Neuerscheinung. „Stuck Rubber Baby“ erschien zum ersten Mal 1995 unter dem albern poetisierenden Titel „Am Rande des Himmels“. Sein Autor Howard Cruse ist für die Vereinigten Staaten, was Ralf König als Comic-Zeichner für Deutschland ist: ein Vorreiter für ein schwules Selbstverständnis, der jegliche noch vorherrschende biedere Sexualmoral mit subversivem Humor aus den Angeln hebt.
Cruse hat 1979 „Gay Comix“ gegründet, das erste explizit schwule Comic-Heft in Amerika. In seiner Serie „Wendel“ zeichnete er das Porträt eines schwulen Jungintellektuellen. Seine Eltern müssen ihn schon einmal mit einer Bondage-Sexanzeige ködern, damit er bei ihnen zum Essen aufkreuzt. Um seine Erwartungen nicht zu enttäuschen, fesseln und füttern sie ihn dann nackt. Das zeigt ihm, dass seine Eltern ihn wirklich lieben.
Ralf König blieb seinem Stil immer treu. Sein typischer Tonfall ändert sich auch dann nicht, wenn er vom humorigen ins ernsthafte Fach wechselt. Howard Cruse erfand sich dagegen mit „Stuck Rubber Baby“ als Künstler völlig neu. Er zeichnete seine Figuren sonst im Stil der Funny Strips: Die Gesichter stellen ein Dauerlächeln zur Schau, die Körper erscheinen keck biegsam, als ob sie sich überall hindurch lavieren könnten. Die Körper in „Stuck Rubber Baby“ aber wirken wie aufgepumpt, von Schwere überladen. Rassismus und Homophobie, denen der verhinderte Held und Ich-Erzähler Toland Polk in den frühen Sechzigerjahren in den Südstaaten begegnet, setzen sich als schwarze Punkte des gesellschaftlichen Stigmas auf der Haut fest – unabhängig davon, ob die Figuren weiß oder schwarz sind.
Toland Polk ist ein sympathischerer Einwohner der fiktiven Provinzstadt Clayfield: Der allgegenwärtige Rassismus, der dort 1963 herrscht, hat nicht Besitz von ihm ergriffen. Obwohl er auf der Seite der Bürgerrechtsbewegung steht, die sich in Clayfield formiert, wagt er es aber dennoch nicht, aktiv an ihr teilzunehmen.
Toland wünscht sich nichts sehnlicher, als ein amerikanischer Jedermann zu sein. Seine uneingestandene Homosexualität hindert ihn allerdings daran. Er redet sich ein, die Aktivistin Ginger zu lieben, deren Traum es ist, in New York eine Musikerkarriere zu starten. Ginger verkörpert alles, was Toland nicht ist: Sie erhebt ihre Stimme; sie weiß, was sie will; sie bricht aus den Verhältnissen aus, die ihr die Luft zum Atmen nehmen.
Die beiden versuchen, miteinander zu schlafen, aber es klappt nicht. Da offenbart er ihr in seiner Verzweiflung, dass er schwul ist. Dadurch findet er sich plötzlich aber auf der Seite derjenigen wieder, die für ein freies Leben kämpfen müssen. Später zeugen sie trotzdem ein Kind, weil die beiden für einen Moment Liebe mit der Bereitschaft verwechseln, sich mit dem abzufinden, was gerade da ist. So lange, wie sie sich selbst verleugnen, wissen sie nicht, wie sie damit umgehen sollen.
Toland erkennt erst nach einem rassistischen Lynchmord, dass sein Leben schon der Tod ist. Als künstlerischer Erfolg und gleichzeitig historische Aufarbeitung ist „Stuck Rubber Baby“ epochal. Howard Cruse schildert den Weg zur persönlichen Identität als Läuterung einer ganzen Gesellschaft.
„Stuck Rubber Baby“ wurde inzwischen keineswegs, wie man denken könnte, durch unsere Zeit überholt, in der ein schwuler Außenminister und ein schwarzer US-Präsident zur Normalität gehören. Dieser Comic visualisiert das erste Freiheitserlebnis, das wir uns bewahren müssen. Es ist die alte Erkenntnis, dass es kein richtiges Leben im falschen gibt: Der dreißig Jahre später in sich ruhende Toland versetzt sich durch die Musik der Freiheitsbewegung zurück in die Vergangenheit, um immer wieder zu erfahren, wer er ist. Howard Cruse lädt mit diesem Comic dazu ein, es seiner Hauptfigur gleichzutun.
■ Howard Cruse: „Stuck Rubber Baby“. Aus dem Amerikanischen von Andreas C. Knigge. Cross Cult, Ludwigsburg 2011, 240 Seiten, 26 Euro