Geliebter Flüchtling

Mann, Frau, Roma: Richard Wagner schreibt in dem Roman „Das reiche Mädchen“ gegen ganz normale Zuschreibungen an

VON INES KAPPERT

Fick nicht mit Auschwitz, fick mit mir.“ In einem nächtlichen Moment schnurrt das riesige Problem, das Bille und Dejan miteinander haben, auf diesen gemurmelten Befehl zusammen und kristallisiert der beiden Gewaltverhältnis. Bille missbraucht Dejan emotional, war aber auch tatsächlich mal in ihn verliebt und will ihm sicher nichts Böses; Dejan benutzt Bille und liebt mal sie, mal ihr Aussehen und hat keine Möglichkeit, die von ihr angebotene Hilfe auszuschlagen. Leider begreift er das nicht, ebenso wenig wie Bille, die Ethnologin, ihren Paternalismus durchschaut.

Richard Wagners neuer Roman „Das reiche Mädchen“ spielt diverse Versuchsanordnungen durch: Was passiert, wenn weibliches schlechtes Gewissen auf männliche Hilflosigkeit trifft? Wenn das Mädchen aus vermögendem Haushalt mit krasser Nazivergangenheit ihre Erbschuld im mehrfachen Wortsinne zu tilgen versucht, indem sie aktuell Verfolgten hilft? In ihrem Fall den Roma. Fast wären es die Indianer geworden. Letztlich aber traf sie auf Dejan. Was passiert, wenn kein Humor und keine Selbstironie dabei helfen, die eigenen Nöte und die daraus entwickelten Fluchtwege nicht bitterernst zu nehmen und damit sich und anderen jeder Spielraum genommen wird? Die Katastrophe passiert, was sonst. Bille wird erstochen, das steht schon auf der ersten Seite geschrieben. Dejans Schicksal erfährt die LeserIn erst gegen Ende. Es ist auch nicht schön.

Wagner, dessen vorhergehende Romane – etwa „Miss Bukarest“ (2001) – sich durch eine leicht dahinfließende Sprache auszeichneten, will diesmal keine durchlaufende Geschichte erzählen. Stattdessen stellt er Mechaniken der Zuschreibung aus. Dazu bedient er sich verschiedener formaler Kniffe: Die tragische Geschichte von Dejan und Bille soll verfilmt werden, der Icherzähler ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch, wenn er Geld braucht, Drehbuchautor. Die LeserIn hat es also mit einer Geschichte in der Geschichte zu tun und nimmt Anteil an der Verfertigung eines Drehbuchs – und der Diskussionen um das Skript zwischen dem Autor namens Carlo, der Regisseurin Anna sowie deren mandeläugiger Freundin mit asiatischem Namen. Carlo steht dabei in finanzieller Abhängigkeit von der Regisseurin, ähnlich wie Dejan von Bille, gleichzeitig wiederholt sich die „multikulturelle“ Paarbindung in der Liaison zwischen Anna und ihrer Freundin Sujatmi. Sie, die von Anna auch als „niedliches Emigrantenwunder“ bezeichnet wird, ist ihre Assistentin. Ostentativ reproduzieren die Figurenkonstellationen gesellschaftlich abgesicherte Machtgefälle. Wir lernen: Die Realität ist die eigene Geschichte im vorgestanzten Plot, der Mehrwertinteressen folgt und trotzdem verwirrend ist. Und: Das Private ist politisch. Das lernen wir auch noch mal.

Wagner schreibt in erster Linie die Moral von der Geschichte auf. Das, was ansonsten zwischen den Zeilen steht, was flirrt und sich beim Lesen als Verstehen, als Teilhabe an einer Erfahrung zusammensetzen soll, wird im Vexierverfahren in schwarze unverrückbare Buchstaben gestanzt. Es wird zur ausformulierten Botschaft, die sagen will, dass jede Fiktion auch eine Bemächtigung der verhandelten Personen darstellt. Dass diese Aneignung von Personen durch eine ihnen zugeteilte Geschichte unter den Voraussetzungen eines strukturellen Rassismus vernichtend sein kann, exponiert der Roman anhand der sehr unterschiedlichen Flüchtlingsbiografien von Bille und Dejan. Bille flieht vor ihrem Elternhaus beziehungsweise vor der dort angehäuften Schuld; Dejan vor dem serbischen Militär. Das ist nicht das Gleiche. Gleichwohl „wird die Lebensgeschichte zur Flüchtlingsgeschichte. Der Flüchtling ist Teil seiner Flüchtlingsgeschichte. Er ist nur noch Flüchtling. Sein Status wird zu seinem Beruf.“ Kein Zweifel, Wagner alias Carlo hat es uns gesagt, glasklar. Denn die LeserIn soll bitte begreifen, dass man mit „Rollenzuweisungen schlechter zurechtkommt“, als „mit einer Schuldzuweisung“.

Als ob der 1952 in Rumänien geborene und seit 1987 in Berlin lebende Wagner seiner Leserschaft dieses Erkenntnisvermögen nicht zutraute, serviert er seine Botschaft unter weitestmöglicher Vermeidung von literarischen Umwegen. Auch wenn sich die Drehbuchauszüge immer wieder zu romanähnlichen Passagen ausdehnen und eine eigene Dynamik entwickeln, am Ende unterbricht die Rahmenhandlung sie und fängt sie wieder ein: „ ‚Sie wird spielen‘, sage ich, ‚ohne es zu wissen, mit sich, mit Dejan. Sie wird aus ihrem Leben ein Projekt machen, ohne sich der wirklichen Gefahren bewusst zu sein.‘ “

Nichtsdestoweniger ist Wagners harsche Zurückweisung jedweden Gutmenschentums berechtigt. Auch beeindruckt seine Sensibilität für die Fallstricke, welche die Flüchtlingsexistenz ihren Protagonisten um den Hals legt. Wagner entwickelt eine Dramaturgie, die unhintergehbar vorführen möchte, dass das Zuschreibungsverfahren als solches – Frau, Mann, Nazitochter, Zigeuner, Asylbewerber – ein ungeheurer und total unterschätzter Gewaltakt ist.

Dieses Kontrollbedürfnis aber hat seinen Preis. So kriegt man als LeserIn weder Material noch Freiraum für die eigene Fantasie, sondern wird nur angefüttert und dann belehrt. Kluge Beobachtungen rücken augrund ihrer Plakativität in eine unschöne Nähe zum Kalenderspruch. Sie verbrauchen sich schnell: „Man kann in der Liebe wehrlos sein, machtlos aber nicht. Wer die Karten zu legen versteht, weiß: Wehrlosigkeit ist ein Abenteuer, Machtlosigkeit eine Niederlage.“ Man hätte dies gerne erfahren und nicht einfach nur gesagt bekommen.

Richard Wagner: „Das reiche Mädchen“. Aufbau, Berlin 2007, 255 Seiten, 19,95 Euro