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Archiv-Artikel

Heiligenkult oder Kritik?

Stuart Pigotts „Wein spricht deutsch“ und der „Weinatlas Deutschland“: Zwei unterschiedliche Kompendien, die das Dilemma der Weinpublizistik aufzeigen

VON TILL EHRLICH

In diesem Herbst fällt die Weinbuchlese eindeutig deutsch aus: Mit „Wein spricht deutsch“ und dem „Weinatlas Deutschland“ beschäftigen sich zwei prestigeträchtig aufgemachte Werke mit heimischen Weinen – das gab es in der populären Weinfachpublizistik in dieser Form schon lange nicht mehr.

Einen auf den ersten Blick eher unspektakuläreren Weg geht der „Weinatlas Deutschland“, der sich auf die Weinregionen Deutschlands konzentriert. Mit Dieter Braatz, Ulrich Sautter und Ingo Swoboda haben sich drei Weinexperten an die Sisyphusarbeit gemacht, die Weinbergslagen neu zu bewerten und die 538 besten in ihren Atlas aufzunehmen. Dem geht die bekannte Erkenntnis voraus, dass man nur aus guten Weinbergslagen gute Weine keltern könne. Geologie und Klima der Weinberge bilden daher die Basis dieser beachtlichen Leistung, die ihre Erkenntnisse aus dem Metier heraus entwickelt.

Eine umfangreiche Kartografie der besten Lagen Deutschlands mit kritischen Einführungen in die Weinregionen wird durch geschichtliche, weinbauliche und geologische Informationen ergänzt. Dem Werk gelingt es, die komplizierten deutschen Weinbau- und Bodenverhältnisse präsent werden zu lassen und anschaulich zu strukturieren, ohne in einen Nominalismus zu verfallen.

Das Hickhack um die Klassifizierung von Spitzenlagen gibt es seit über zwanzig Jahren. Winzer behaupten gern, die besten Weinberge zu bewirtschaften. Der Weinatlas kommt zu einem anderen Urteil als die Produzenten und ihre Verbände. Gewiss, über manche Bewertung lässt sich streiten. Doch die Autoren haben mit Sorgfalt einen eigenen Standpunkt entwickelt. Hier zeigt sich, dass Subjektivität und Urteilskraft nicht nur Übersicht schaffen können, sondern Transparenz. Darin liegt die Stärke vom „Weinatlas Deutschland“. Leider wird sie dadurch gemildert, dass sie die Entität des Produktes Wein überwiegend mit der natürlichen Natur (Boden und Klima) in Verbindung setzt und nicht vorwiegend mit der künstlichen Natur, der Weinbaukultur. Eine Ausweitung auf den entscheidenden Faktor Mensch, also wie der Hersteller etwas aus der Traube einer Lage macht, würde man sich als Fortsetzung wünschen. Dennoch ist das Buch ein Meilenstein für das Fach und die bislang überzeugendste Veröffentlichung über deutsche Weinbergslagen.

Stuart Pigotts „Wein spricht deutsch“ ist ein opulentes Werk im Geist des Historismus, doch dafür kommt es mehr als hundert Jahre zu spät. Der englische Weinjournalist wird unterstützt von verschiedenen Fachautoren. Resultat ist ein 720 Seiten dickes Weinbuch mit enzyklopädisch anmutendem Anspruch, dessen gewaltiges Format unweigerlich an ein Messbuch erinnert.

Es beginnt mit einer inhaltsreichen Einleitung, in der Pigott kundig in das komplexe Thema des Weines einführt. Leider erschöpfen sich danach die Mittel, das Buch bleibt in Geschichten über Winzer, Weine und Viten verstrickt. Es stellt kapitelweise alle „deutschsprachigen Weingebiete“ – so die Formulierung des Herausgebers – vor, von Südtirol und Österreich über die Schweiz und Liechtenstein bis nach Luxemburg, und umarmt auch das französische Elsass. Aber das wahre Problem sind fehlende neue Ideen, da der uralte Ansatz zwischen lehrmeisterlicher Historisierung und pathetischem Bericht oszilliert.

Pigott und seine Mitautoren bereisen die Weingebiete, begegnen dabei den Figuren der Szene und sind sich offensichtlich darin einig, dass die Boden- und Weinbauverhältnisse in historisierenden Legendenbildungen gut aufgehoben wären. Dabei wird die Anhäufung von Sensationsberichten aus der Weinszene mit der eigentlichen Ereignisgeschichte verwechselt. Für ein Standardwerk, ein Paradigma von bleibendem Wert, reicht dieses Kleingeld unseres Metiers nicht aus. Die Beschreibungen veranschaulichen nicht, dass die Winzer einen Organismus mit Geschichte vor sich haben. Grundlegende Fragen einer genuinen Weinkultur werden nicht gestellt, etwa worin die geschichtliche Stärke eines Weingebietes als wörtlich genommenes Wein-Gut besteht. Ob dieser Wert bewahrt wird oder zu einem Image verkommt. Und wie etwas niedergeht und wieder entsteht in mühseliger Arbeit.

Pigott hat eine ausgeschriebene Sprache mit spannender Dramaturgie, die vor Exzessen und Affekten nicht zurückschreckt. Doch die lesenswertesten Kapitel hat Stephan Reinhardt geschrieben, etwa die Darstellung des österreichischen Weingebietes Carnuntum. Seine scharfsinnige Stilistik, die weinfachliche Kompetenz mit Ironie verbindet, bereichert das Buch.

Das Werk basiert auf der Annahme, dass die deutsche Sprache einen Zugang zum Wein eröffne. So liest man mit Erstaunen in der Einleitung, dass es Weine gäbe, die „eindeutig deutsch sprechen“, nämlich „geradlinige Weine“, die in stilistischer Vielfalt im „deutschsprachigen Wein-Kulturraum“ hervorgebracht würden. „Der deutschsprachige Winzer“ arbeite mit großer Sorgfalt und habe zugleich den Ehrgeiz, „die Sache auf die Spitze zu treiben und Grenzen auszuloten“. Pigott verfällt so in einen Nominalismus, der Charaktereigenschaften und Merkmale feststellen will, um das Dasein einer Identität rhetorisch zu präsentieren. Er spricht von der deutschsprachigen Weinkultur. Doch die gab es nie.

Das Deutsche mag vielleicht für einen Außenstehenden eine Einheit bilden. Und natürlich können sich Menschen deutscher Zunge sprachlich und kulturell verständigen. Aber verstanden haben sie sich bis heute kaum. Das „eine Volk“ und die „eine Kultur“ – ein nationalistischer Traum und Albtraum der Deutschen. Die kulturbildende Kunst und Philosophie ist bei uns gerade dadurch stark, dass sie sich in guten Zeiten dezentral zu fruchtbaren Traditionen entwickeln konnte. In Zeiten der Vereinheitlichung wurde dies eher gebremst. Seit Luthers Bibelübersetzung wurde zwar Hochdeutsch verstanden, aber die Menschen deutscher Länder sprachen eh und je verschiedene Mundarten, so, wie ihnen auch schon immer Unterschiedliches mundete. Ebenso ist es mehr als fraglich, dass Weine aus dem Schweizer Oberwallis etwas mit Weinen aus dem österreichischen Südburgenland zu tun haben sollen oder ein Riesling aus der Pfalz etwas mit einem aus dem Südtiroler Eisacktal.

Deutsche Weine befinden sich im internationalen Vergleich gegenwärtig auf einem sehr hohen Niveau. Doch wir Weinjournalisten haben uns leider angewöhnt, uns an Starwinzer zu hängen, mit ihnen euphorisch den Höhenflug zu feiern und uns später an ihrem Niedergang auszutoben. Was fehlt, ist differenziertes Handwerk, das die Auswirkungen von Klima, Bodenbeschaffenheit, Kellereitechnologie und die Widersprüche der önologischen Innovationen zusammenbringt. Wie in der Kunst kann auch bei der Weinwerdung das alltägliche Misslingen eine Chance für die Weiterentwicklung des Metiers sein. Darüber wird bisher gar nicht gesprochen. Wir brauchen weder Starbildung noch Königsmacherei, um glaubwürdig über Wein schreiben zu können.

In der Heiligenverehrung waltet das theologische Denken von Creator Spiritus, also pure Metaphysik. Wir Weinjournalisten sind in der verhängnisvollen Versuchung, den Weinpapst zu spielen und auf Teufel komm raus aus dem Winzer einen Heiligen auf Abruf zu machen. Leider verwandeln sich solche Heilige schnell in Hersteller profaner Massenweine. Glücklicherweise beginnt auch in der Weinpublizistik eine Rückbesinnung auf die elementaren Fragen des Faches: Wie bildet sich aus dem sinnlichen Reiz ein komplexes sinnhaftes Gebilde als Geschmack, Farbe oder Geruch? Welche Verführungen des Denkens spielen bei der Bildung einer Sinnesqualität mit? Und wie kommt sie im Wein zur Erscheinung?

Stuart Pigott setzt noch auf das alte Muster einer dualen Gut-böse-Argumentation, die ihren affirmativen Ansatz verbergen will. Weil Pigott ständig Winzer loben muss, erfindet er scheinhaft Feinde, um die Geschichten zu befeuern. Etwa „Technokraten“, „Weinbauverbände“ oder „Weinbürokraten“, die die alleinige Schuld am Niedergang deutscher Weine in den Siebziger- und Achtzigerjahren tragen. Doch den Absturz beschleunigte auch, dass es einen Konsens darüber gab, dass man diese Weine nicht mehr wollte, und sie besonders von kulturellen Eliten als deutschtümelnde Relikte empfunden wurden.

Zudem hatten sich spätestens in den Siebzigerjahren viele Winzer von der Erzeugung anspruchsvoller Weine verabschiedet. Die damalige Generation der Weinjournalisten trägt eine Mitschuld, da sie es versäumte, rechtzeitig – also lange vor den Weinskandalen der Achtzigerjahre – mit Kritik auf die Fehlentwicklungen in der Weinwirtschaft zu reagieren. Tradition bedeutet auch, dass sich Kultur aus dem Verfall der Kunst bildet, die in der Einsamkeit ihrer Hersteller entsteht. Diese Kunst ist höchst radikal und oft unverständlich. Das kann man ebenso über die Weinkritik sagen. Wenn sie selbst nicht radikal ist und nicht auch Radikalität vom Weinerzeuger einfordert, geht sie unter. Mir ist schon lange klar, dass wir uns in einer kritischen Auseinandersetzung verbünden müssen oder von künftigen Generationen als weinselige Amateure bloßgestellt werden.

TILL EHRLICH, Jahrgang 1964, lebt als Autor in Berlin und ist Redakteur der Sättigungsbeilage Stuart Pigott, Andreas Durst, Ursula Heinzelmann, Chandra Kurt: „Wein spricht deutsch“. Scherz Verlag, Frankfurt am Main 2007, 720 Seiten, 78 Euro Dieter Braatz, Ulrich Sautter, Ingo Swoboda: „Weinatlas Deutschland“. Gräfe und Unzer, München 2007, 280 Seiten, 59,90 Euro Das taz.mag verlost fünf Exemplare von „Wein spricht deutsch“ an Weinkenner, die folgende Frage beantworten: Wo liegt der nördlichste Weinberg Deutschlands? Eine Postkarte mit der Antwort bitte an: die taz, taz.mag, Kochstraße 18, 10969 Berlin oder magazin@taz.de