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Archiv-Artikel

Dr. Sommer des Ostens

Wer Jugendliche in der DDR fragte, was sie auf jeden Fall in der FDJ-Zeitung Junge Welt lesen, kriegte zur Antwort: Mittwoch, Seite 6.

Hier beantwortete Jutta Resch-Treuwerth alles, was junge Leute schon immer über Liebe, Lust und Leidenschaft wissen wollten, aber nicht offen zu fragen wagten. Das mit der 6 (Sex, haha) war Zufall. Diese Seite war eine sogenannte Wechselseite, mittwochs erschien Resch-Treuwerths Format „Unter vier Augen“, an anderen Tagen Gerichtsberichte oder Freizeittexte.

Jutta Resch-Treuwerth war eine Institution in der DDR, so etwas wie der Dr. Sommer des Ostens, nur besser. Ehrlicher, ernsthafter. Jetzt ist sie im Alter von 73 Jahren an Krebs gestorben.

Man konnte sie alles fragen: Ich, 14, habe mich in den Ferien verliebt, aber sie schreibt nicht. Findet sie mich jetzt doof? Ich habe eine große und eine kleine Brust, ist das krankhaft? Ich bin schon 21 und hatte noch nie Geschlechtsverkehr. Was mache ich falsch?

Resch-Treuwerth beantwortete jeden Brief, manchmal mussten die Ratsuchenden etwas länger auf Post aus dem Berliner Verlag, wo die Junge Welt damals ihre Redaktion hatte, warten. Bis zu 30 Briefe bekam die Autorin jeden Tag. Darunter leidvolle Klagen, weil junge Mütter vergeblich nach Windeln rumrannten, der Freund im Westen war und Väter jahrelang bei der Armee Dienst schieben mussten, statt bei ihrer Familie zu sein.

Einige dieser Briefe hat Resch-Treuwerth in dem Buch „Unter vier Augen“ (Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf) veröffentlicht. Das Buch, in dem Resch-Treuwerths Antworten fehlen, sagt mehr über das Leben im untergegangen Land aus als jede noch so eifrige soziologische Studie. Es ist DDR pur.

Jutta Resch-Treuwerth war eine der Ersten, die über Homosexualität schrieben: dass Schwule und Lesben nicht krank, sondern ganz normal sind. Dafür hat sie viel Ärger bekommen. Offenheit hatte in der DDR bekanntermaßen Grenzen.

In der Wendezeit machte sie sich mit einer Partnerberatung und -vermittlung selbstständig. Bis zuletzt schrieb sie für zahlreiche Zeitungen Beziehungskolumnen. Die Junge Welt wird demnächst ihre letzte drucken.

SIMONE SCHMOLLACK