: Steine fliegen. Schrecklich. Schön.
AUFSTAND Die „Tagebücher des Maidan“ sind ein Theaterstück und eine eindrückliche Schilderung der Revolution in Kiew. Die taz.am wochenende druckt sie in gekürzter Form
■ Automaidan: Autofahrer, die für die Proteste mobilisierten, Demonstranten kostenlos beförderten und Autokorsos zu Häusern von Politikern veranstalteten.
■ Berkut: Dem Innenministerium unterstellte, inzwischen aufgelöste Polizeieinheit.
■ Klitschko, Vitali: Boxweltmeister und Vorsitzender der proeuropäischen Partei „Udar“. Heute Bürgermeister von Kiew.
■ Lyschytschko, Ruslana: Ukrainische Sängerin, Tänzerin und Komponistin. Gewinnerin des Eurovision Song Contest 2004.
■ Medwedtschuk, Wiktor: Oligarch und Politiker. Gründer der Bewegung „Ukrainische Wahl“. Für eine Annäherung an Russland.
■ Tituschki: Nach dem Kampfsportler Vadim Tituschko benannte, vom Janukowitsch-Regime bezahlte Schläger.
VON NATALIA VOROSCHBIT, ÜBERSETZUNG LYDIA NAGEL
An einer Tonne auf dem Maidan
Psychologe Alexej: Bei mir auf Arbeit gibt es so einen Opa, der ist ein ganz überzeugter Anti-Maidanler. Und dann erzählt er, dass im Fernsehen … also, dass man nur die russischen Sender gucken soll, na, weil da halt die Wahrheit gezeigt wird. Also, dass … ein Delegierter aus Amerika gekommen ist, mit sechzehn Millionen Dollar – für diese ganze Aktion, dass die Geheimdienstler ihn erwischt und ihm das Geld abgenommen haben.
Mann: Wo ist denn dieser Opa?
Psychologe Alexej: Wir sitzen im selben Büro. Personalabteilung, Militärinstitut für Telekommunikation und Informationstechnologie. Tja. Und dann hat er noch gesagt, er weiß, warum sich die Leute so verhalten, er hat das in irgendeiner Sendung auf „Mega“ gesehen, es gibt so eine chinesische Droge, Solka heißt die.
Junge Frau: Solka oder Assolka?
Psychologe Alexej: Solka heißt die. Das ist eine Droge, die aussieht wie Salz, sie schmeckt nach gar nichts; wenn man die jemandem ins Essen tut, merkt man ihm äußerlich erst mal nichts an, aber die Leute werden davon zu Zombies.
Die Vertreibung der Studenten
Die Teilnehmer des Projekts „Tagebücher des Maidan“ und ihre Gäste – Studenten, die den Sturm miterlebt haben – sitzen in einem Kindertanzklub um einen kleinen Weihnachtsbaum. Ab und zu wird ihr Gespräch von Durchsagen aus einem Funkgerät des Automaidan unterbrochen, das eine schwangere Teilnehmerin dabeihat.
Student Bohdan: Als ich klein war, bin ich mit meinen Eltern auf den Maidan gegangen, als die Orange Revolution war. Da standen auch überall Zelte. Und ich habe damals davon geträumt, dass ich, wenn ich groß bin, auch mal so wohnen will. Auf dem Maidan, in einem Zelt …
Student Wowa: Am 30. waren wir so gegen halb zwei da. Als Erstes fiel uns auf, dass wenig Leute da waren, dass keine Musik lief und die Bühne abgebaut war. Wir sind zuerst zu den Studenten aus Lwiw gegangen, sie haben irgendwelche ukrainischen Lieder gesungen, die kannte ich gar nicht.
Student Bohdan: Wir haben dann Grütze gegessen, Weizengrütze, mit Fleisch, die war wirklich lecker, ich wusste gar nicht, dass Weizengrütze so lecker sein kann. Ich habe da auch ein Mädchen kennengelernt, Olenka hieß sie, aus Lwiw, sie war gerade mit der Uni fertig geworden. Um vier schrie jemand „Tituschki!“. Alle liefen zum Denkmal für die Stadtgründer, ein Auto mit einem Tannenbaum kam angefahren, wir fingen an, die Hymne zu singen, da stieg rechts aus dem Bus eine Truppe Berkutler aus. Sie rannten los und umzingelten den rechten Teil. Dann kamen von der Institutskaja zwei Touristenbusse, aus denen kletterten auch Berkutler. Irgendwer rief: „Los, alle zur Säule, alle zur Säule!“, leichte Panik brach aus, Angst, alle machten irgendwas und wussten nicht, was sie machen sollten. Sie haben von rechts angefangen, da kommt ein Typ angerannt, nimmt einen Stock von der Bühne und wirft ihn in die Berkut. Ich frage „Was soll das?“, ich habe nicht gesehen, dass sie von hinten schon angreifen, deshalb habe ich gedacht, dass von unserer Seite provoziert wird.
Student Wowa: Na, da waren diese Radikalen, die sich da auf irgendwas vorbereiteten, aber insgesamt waren wir so um die dreihundert, die noch da waren, wir passten alle unten auf den Sockel, da standen wir, und als die anfingen, das waren so zweitausend, keine Ahnung, haben alles in doppelter Reihe umzingelt und angefangen …
Student Bohdan: Sie sind vorgerückt, und als die Mädchen, die Frauen anfingen zu schreien, da ist Panik ausgebrochen. Die Berkutler sind schon auf dem Sockel, dreschen auf die Leute ein. Wir sind schon am Wegrennen, da bleibe ich stehen, denke, na, das war’s dann wohl, die Säule haben sie erobert, jetzt reicht’s, Leute, ihr habt gewonnen. Aber die klettern zu uns runter. Dann fällt mir ein, beim Denkmal für die Stadtgründer standen die Mädchen, die meisten jedenfalls, und sie riefen „Ruhig, ruhig!“, mir war nicht klar, meinen die nun die Berkutler oder uns, und was soll das bedeuten.
Student Wowa: Einmal sogar, da hat ein Berkutler jemanden geschlagen, dann den Helm hochgeschoben, verschnauft, sich den Schweiß abgewischt, den Helm wieder runtergeschoben und weitergemacht.
Iwona: Ich habe in der Berkut einen Jungen gesehen … das sind ja eigentlich alles ältere Typen da, aber ein junger war dabei und der hat geweint … und dabei zugeschlagen …
Wasyl: Also, da beim Rechten Sektor standen die Jungs von der Selbstverteidigung und vom Dreizack … solche, die sich und auch alle anderen verteidigen können! Auf die haben sie am dollsten eingeschlagen! Ich sehe, wie dort einer vom Dreizack zusammengeschlagen wird, renne da hin, ich hatte einen Stock dabei und hab ihm zweimal auf den Helm gehauen … aber deren Taktik war so, dass sie schlagen und wegrennen … dann kommen die Nächsten und schlagen wieder … ich schlag dem also zweimal auf den Helm, der rennt weg … ich will zurück, da zerrt mich jemand an der Jacke und schüttelt mich, ich falle, und die fangen an zu prügeln … es kam mir so vor, als ob die mich zehn Minuten lang geschlagen haben …
Jurko: Die sie von der Säule runtergestoßen hatten, wurden zusammengeschlagen, das reinste Gemetzel … ich und ein paar andere haben versucht, die Leute da rauszuholen … wir haben die einfach wie irgend so ein Ding hochgezogen, bis ich dann selber die Kraft verloren habe und runtergefallen bin … ich weiß noch, dass ich einfach in die Berkut gebrüllt habe: „Gib mir die Hand, gib mir die Hand“, und einer von denen, keine Ahnung wieso, hat mir dann wirklich seine Hand gegeben … Die haben dann so ’ne Art Korridor gebildet, und als ich den langgelaufen bin, da ging es los mit den Knüppeln … auf den Oberkörper, auf Arme und Beine, eigentlich nicht so stark, aber dann hat mich einer auf den Kopf getroffen … ich hatte wirklich Glück, dass ich ’ne Glatze habe, der Knüppel ist abgerutscht und hat nicht direkt getroffen, und auch meine Boxerfahrung hat mir geholfen, und das Adrenalin. Dann standen auf einmal ganz viele Leute um mich rum, die haben mir den Kopf abgewischt, weil das wirklich doll geblutet hat. Irgend so ein komischer Typ rannte die ganze Zeit um mich rum und schrie „Bleib hier sitzen, geh nicht weg, gleich kommen die Medien, die filmen dich!“ Die anderen sagen zu ihm: „Bist du nicht ganz dicht? Was für Medien? Der hat den Kopf aufgeschlagen!“ Der eine hatte irgendwas Flüssiges dabei und hat mir die Klamotten ein bisschen abgewischt … Dann hat er mich zur Metro gebracht und ich bin zu Freunden gefahren. Obwohl ich zuerst alles hinschmeißen und nach Lwiw fahren wollte, eine Pistole holen.
Student Wowa: Wie, du hast eine Pistole?
Jurko: Na ja … Lwiw ist eigentlich eine Stadt, wo’s keine Waffen gibt … solange man keine braucht … Waffen sind ja irgendwie wie Inspiration … mehr hab ich nicht zu sagen … am Sonntag war ich zurück auf dem Maidan und habe dort, das kann ich schon so sagen, echte Freunde gefunden … und sogar die Liebe.
Iwona und Olena. Iwona ist sechzehn, Olena ist achtzehn.
Iwona: Ich bin jetzt für die Küche an der Säule verantwortlich. Wir sind wirklich eine große Familie. Jetzt gibt’s meistens belegte Brote. Die organisieren wir und verteilen sie dann auf dem Maidan. Die Leute bringen viel her. Manchmal bringen auch Restaurants warmes Essen vorbei, und wir verteilen das. Neben uns ist die Kosakenküche, da wird natürlich alles über Feuer, in Kesseln gemacht. Manchmal gehen wir zum Schlafen nach Hause. Obwohl auch welche auf dem Maidan übernachten. Aber ich bin ja aus Kiew und schlafe zu Hause, wenn ich nicht gerade Nachtdienst habe.
Olena: Mir hat eine Freundin erzählt, dass nach den Übergriffen ihr Dozent zu den Studenten gesagt hat, dass er sie nicht prüft, bevor sie nicht auf dem Maidan waren und ihre Position als Bürger vertreten haben.
Iwona: Mama hat ein kleines Kind, und mein Stiefvater muss arbeiten, er ist der Einzige, der die Familie ernährt. Da sagt Mama zu mir: Iwona, die Volksversammlung fängt gleich an … Iwona, genug geschlafen, steh auf und geh da hin.
Die Geschehnisse auf der Bankowaja am 1. Dezember
Jurko 2: Wie viele Leute da waren, weiß ich nicht. Vom Maidan hieß es, siebenhunderttausend. Die Menschen tun ihren Willen kund. Wow, toll, sie haben sich versammelt. Aber was steckt dahinter? Alle wollten Taten sehen. Aber es gab einfach keine Taten oder wenigstens irgendwelche Anstalten. Und deshalb bewegte sich ein Teil die Institutskaja entlang. Um die Verwaltung zu stürmen. Mir war nicht klar, wieso die Verwaltung gestürmt werden sollte. Der Präsident ist nicht da. Irgendwelche Dokumente sicherstellen? Wir haben doch keine Juristen oder irgendwen, der sich mit so was auskennt …
Alla: Ich arbeite beim Sender 1+1. Und ich musste am Sonntag arbeiten, die Sendung für Montag vorbereiten. Dann kommt unsere Redakteurin, aus Mariupol ist sie. Sie kommt zu mir rüber und sagt: Na, gehst du hin? Und ich: Na klar. Sie sagt: Wieso gehst du da hin, die sind doch alle gekauft … Scheiße. Also du, du bist hier die beste Redakteurin, wie kannst du bloß so was denken. Jetzt geht’s los, denke ich, jetzt werde ich so eine aggressive Zicke. Ich versuche, ihr irgendwas zu beweisen, zu erklären … Ich bin einfach aufgestanden und rausgegangen, raus auf die Straße, weil ich auf den Maidan musste. Draußen steht ein Sendewagen von uns, der war gerade mit Journalisten für eine Live-Übertragung unterwegs. Da fahre ich am besten gleich mit denen mit, denke ich mir und setze mich rein. Da sitzt ein Journalist mit Schutzhelm und Atemmaske. Wir probieren diese Atemmaske aus, keiner weiß, wie das geht, sie stinkt nach Gummi. Wie man durch die atmen soll. Fünf Minuten später bin ich auf der Bankowaja, steige aus. Der Journalist rennt zur Liveübertragung mitten ins Getümmel. Shit, denke ich. Das ist alles so schrecklich, aber zugleich auch faszinierend. Diese Explosionen. (Lachen) Nein, wirklich, das hat was. Ich hätte nie gedacht, dass einen das so fesselt, man kann einfach nicht weg. Man guckt einfach nur wie ein Reh ins Scheinwerferlicht und kann nicht weg. Also. Dann habe ich Gas eingeatmet. Habe gehustet. Da rennen lauter Männer auf mich zu, Steine fliegen, wenn ich mitrenne, trampeln die mich nieder. Wirklich schrecklich. Schön. Irgendwie.
Andrej: Und ich komme runter und sehe, wie da in der Stadtverwaltung im ersten Stock die rot-schwarze Fahne gehisst wird und die Fenster eingeschlagen werden. Und da, also … alles in vollem Gange, die Türen stehen offen … glückliche Menschen, und durch den Haupteingang strömt eine Menschenmenge. Und ein Abgeordneter von der Swoboda verkündet die Einrichtung eines Revolutionskomitees, und ich nehme das auf mein Diktafon auf. Und sie hängen das Porträt vom Präsidenten ab und, was mich beeindruckt hat, stellen es vorsichtig in die Ecke. Also zuerst kopfüber, und dann haben sie’s umgedreht, damit der nichts mehr sieht. Aber keiner hat das Glas zerschlagen von dem, dem Präsidentenporträt. Und da steht so ein Flügel, und ich denke noch, wieso spielt eigentlich keiner. Diese ganzen Menschen. Wieso spielt eigentlich keiner auf dem Flügel. Da setzt sich jemand hin und fängt an zu spielen. Und dann immer andere, ja. Ich sage, spielt doch mal Beethoven, diese Europahymne. Aber die kann keiner, die Europahymne. Chopin wird gespielt. Ach, was soll das denn, über irgendwelche Blümchen.
Rothaarige Frau: Wir sind zum Michaelskloster gegangen und ich bin dann … So was habe ich zum ersten Mal gesehen. Ich bin reingegangen, und da war wirklich gerade Gottesdienst, und auf dem Boden lagen Kleidungsstücke und auch irgendwelche Teppiche. Ein paar Leute saßen rum, einige schliefen.
Andrej 2: Ich bin dreimal um die Kathedrale gelaufen. Weil ich weiß, dass die Buddhisten das so machen … Ja, wirklich. So als Pilgerweg. Und da haben, also da waren auch andere Leute, die geschlafen haben, und der Priester spricht Gebete … Das hat mich wirklich sehr berührt, ich weiß noch, da dachte ich, in der Ukraine gibt es, na, Dinge, die heilig sind. Die gibt es, die sind nur irgendwo ganz tief drinnen.
Rothaarige Frau: Und ich dachte, dass also, dass es jetzt losgeht, dass die Revolution angefangen hat. Jetzt ist es losgegangen, die ganze Bewegung, alles wird jetzt anders, die Menschen werden jetzt anders. Ich dachte, die ganze Welt wird sich jetzt verändern.
■ 21. 11. 2013 Proteste auf dem „Unabhängigkeitsplatz“ (Majdan Nesaleschnosti) in der ukrainischen Hauptstadt Kiew, nachdem die Regierung ankündigt, ein Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterzeichnen zu wollen.
■ 29. 11. 2013 Erneute Proteste nach Nichtunterzeichnung des Abkommens auf dem Treffen der Östlichen Partnerschaft in Vilnius.
■ 30. 11. 2013 Berkut-Einheiten der Polizei lösen Studentenproteste mit exzessiver Gewalt auf.
■ 1. 12. 2013 Mehr Proteste. Absetzung von Präsident Wiktor Janukowitsch gefordert.
■ 8. 12. 2013 Mehr als eine halbe Million Menschen protestieren.
■ 18. 2. 2014 Eskalation. In der Folge mehr als 80 Tote.
■ 21. 2. 2014 Deutschland, Frankreich und Polen vermitteln Vertrag, der für Frieden sorgen soll. Janukowitsch flieht. Einen Tag später erklärt ihn das Parlament für abgesetzt.
■ 26. 2. 2014 Übergangsregierung unter Arseni Jazenjuk.
■ 25. 5. 2014 Petro Poroschenko gewinnt Präsidentenwahl. Einen Tag später wird er zum Wahlsieger erklärt.
Freiwillige in der Malteserküche
Freiwillige 1: Vor zwei Jahren war da mal so ein Opa. Also, das war entweder im Fernsehen, oder ich hab’s irgendwo gelesen … Und der Opa hat gesagt, er hat Janukowitschs Tod vorhergesagt. Für den 25. Februar 2014.
Freiwillige 2: Pawel Globa, der Astrologe, sagt, dass die Ukraine zwei Jahre lang, 2014 und 2015, unter schlechten Einflüssen stehen wird. Und dass wirklich viel passieren wird, dass es sogar zur Teilung kommen kann, aber wenn die Ukraine durchhält, dann wird sich ab 2018 alles zum Guten wenden, und es wird eine neue politische Ideologie geben.
Freiwillige 1: Freunde von mir gehen ständig zu einer Astrologin. Und die hat ihnen gesagt, dass das alles bis Juli dauern wird. Ja. Der Maidan wird bis Juli so bleiben. Also …
Freiwillige 2: Im Internet gibt’s ein Telefonat zwischen Obama und Putin. Die unterhalten sich da ganz freundlich und überlegen, wer jetzt, Poroschenko oder Medwedtschuk. Und einigen sich auf Poroschenko.
Freiwillige 1: Also, ich finde Klitschko gut.
Freiwillige 3: Ja?
Freiwillige 2: Würde ich schon sagen. Ein ansehnlicher Typ.
Freiwillige 1: Gestern gerade, als die Berkut vertrieben wurde, da kam Klitschko gucken, was los ist. Er geht also durch die Menge. Die sind alle so klein da, wie kleine Jungs. Und Klitschko geht weiter durch die Menge. Dann dreht er sich auf einmal um und guckt einen Typen an: Hast du getrunken? Und der: Wie, was? Hauch mich mal an. Und der Typ haucht Klitschko echt an.
Die Kosaken über die Stürmung des Maidan vom 10. auf den 11. Dezember
Kosak 1: Wenn diese ganzen Politiker über Nacht mit uns hier wären. Nicht so wie die: „Oh, ich bin so ein toller Typ, jetzt morgens komme ich auf die Bühne, nun unterstützt mich mal, Jungs! Und abends bin ich auch schon wieder da – Los, unterstützt mich alle!“ Nee, Jungs, so läuft das nicht. Jetzt einigt euch mal, wer von euch zu den Verhandlungen mit dem Staatschef geht, und ihr anderen beiden kommt her und haltet die Stellung! Wie Ruslana …
Junger Kosak: Ja! Also, Ruslana ist für mich wirklich eine Heldin! Sie ist doch schließlich eine Frau und kein Politiker, aber sie ist die ganze Zeit bei den Menschen, die ganze Zeit auf dem Maidan!
Natascha: Dann sollte vielleicht Ruslana Präsidentin werden?
Kosaken (zusammen): Ach nee.
Natascha: Und wären Sie gern mit jemandem wie Ruslana verheiratet?
Kosak 2: Nee … So eine Frau passt nicht zu jedem. Sie übernimmt die Führung, das ist für einen Mann ganz schön schwer …
Kosak 3: Soll ich mal was Lustiges erzählen? Also, ich habe ja ein Gebiss, manchmal nehme ich das raus … und ich hab’s in die Tasche gesteckt, na ja, und bin losgerannt, das Zelt haben die völlig zerstört. Soll ich denn, wenn ich zurückkomme nach Lwiw, sagen, ich habe während der Stürmung meine Zähne verloren? Oh Gott, denke ich, jetzt muss ich Grießbrei essen und Latte trinken, kein Fleisch und keine Wurst mehr? Da sagen die Jungs: „Komm, wir gehen mal gucken.“
Kosak 1: „Komm, wir gehen mal gucken“, haben wir gesagt.
Kosak 3: Und da herrscht ein einziges Durcheinander, die Tasche liegt rum, irgendwas haben sie mitgenommen. Aber siehe da – die Zähne sind noch ganz heil.
Die Kosaken gehen.
Rothaarige Frau: Ich frage die Jungs: „Was soll ich euch bringen?“ Na ja, denke ich, vielleicht Tee oder was Süßes … „Nein“, sagen sie, „Gabeln für Schleudern, Ammoniak, ein paar Meter Mullbinde, Lederstücke oder Kunstleder, was ihr nicht mehr braucht, oder ein Stück Plane …“
Junge Frau in Blau: Und wozu brauchen sie Ammoniak?
■ Wer war das? Die Kiewer Dramatikerin Natalia Voroschbit und der Regisseur Andrej Mai arbeiten seit Jahren zusammen. Bei den Protesten auf dem Maidan kam ihnen die Idee, Demonstranten zu interviewen und ein dokumentarischen Theaterstück daraus zu machen. Freunde, Dramaturgen und Regisseure der Gruppe Neue Ukrainische Dramatik, aber auch ein Militärpsychologe halfen dabei.
■ Wie war das? Die Interviewerinnen nahmen die Gespräche auf Video oder mit einem Aufnahmegerät auf. Danach schrieben Helfer alles ab und Natalia Voroschbit kompilierte aus den Texten das Stück, das unter anderem im Berliner Maxim Gorki Theater und am Hamburger Thalia Theater lief.
■ Die Übersetzung wurde dank der Unterstützung des Goethe-Instituts Ukraine ermöglicht.
Rothaarige Frau: Den füllen sie in Präservative und werfen damit, wenn sie angegriffen werden … das stinkt ja ganz schön.
Junge Frau in Blau: Ich finde, so was sollte man nicht machen.
Frau in Rot: Ich habe eine sechzehnjährige Tochter, die hier an der Architekturhochschule studiert, also jeden Tag fährt, und ich rufe sie von früh bis spät an, ich habe echt Angst. Das ist wohl der Mutterinstinkt, also ich würde zuschlagen. Die sind jetzt in unser Territorium eingedrungen, jetzt reicht’s, alles Positive vom Maidan ist in mir kaputtgegangen, dafür ist das ganze Negative gewachsen. Wie wollen wir die erschlagen? Überlegt euch was, ja, ihr seid jung, ich werde dasitzen und Patronen nachlegen, was soll ich denn machen.
Nach den Geschehnissen auf der Hruschewskyj-Straße
Hübsche Frau: Mir gefällt das alles sehr. Also, diese Männer … Ich habe einem, einem Schauspieler von uns geschrieben und gesagt: Andrej, wenn du nachts mit den Männern zusammensitzt, dann frag doch mal, warum ich ihnen in Friedenszeiten nie begegne. Also, diese Frage beschäftigt mich wirklich. Ist der Maidan für die Männer eine Gelegenheit, ihren Pseudoheroismus zu zeigen, oder ist das echter Heroismus? Das verstehe ich nicht. Eine gewisse Dosis Angst und Schrecken, und schon habe ich alle möglichen rebellischen Gedanken … Dass ich unzufrieden bin mit meinem Leben. Vor allem im Privaten. Und dass mein Mann, wenn er auf den Maidan gehen würde, vielleicht da umkommt. So was denke ich! Und dann wäre er ein Held. (lacht) Jaaa! Wirklich! Das denke ich echt! Dann hätte Sonja einen Helden zum Vater, und ich wäre frei.
Nach den Geschehnissen auf der Institutskaja
Tante Schenja: Weißt du noch, da war so ein richtiger Feuergürtel. Der durfte ja nicht ausgehen. Sogar Kleidung haben wir reingeworfen. Lebensmittel. Unsere Sachen. Ein Stiefel von mir war auch weg. Also wirklich alles. Damit das brennt. Als Verteidigung. Ich war gerade den Tag früh auf der Bank gewesen und hatte viertausend abgehoben, ich wollte doch einen Grabstein für meinen Mann machen lassen. Und hatte gerade Gehalt bekommen, und dieses Geld und meine Schlüssel und das Handy und alles, was ich hatte, und die Brille und alles, alles … haben sie zusammen mit dem Zelt genommen und ins Feuer geschmissen … Und den Speck … Bestimmt fünfhundert Kilo … kistenweise Speck.
Ich lege mich schlafen und habe diesen Jungen vor Augen, den sie gebracht haben. Eine gehäutete Leiche. Nur das Gesicht war weiß, alles andere ganz rot. Ob er verbrannt ist oder was weiß ich, er war vollkommen rot.
Dann führen sie diese Berkutler her, drei Mann. Die hatten sie gleich abgesondert. Einen dreifachen Ring haben sie um sie gebildet, damit die Leute sie nicht in Stücke reißen. Und ein Junge in Uniform steht da, so ungefähr siebzehn ist der, und der ruft: „Rührt sie nicht an, nicht anrühren! Lasst sie leben!“ Und ein anderer: „Leben?! Mein Bruder wurde gerade umgebracht.“
Und ein anderer erzählt, dass ihn die Berkutler erwischt und zu Boden gerissen haben und dann weitergerannt sind, aber einer ist dageblieben und hat gesagt: Pack dich unter mein Schild. Und das hat er gemacht, und der hat dann danebengeschlagen, also so getan, als ob, und die anderen Berkutler sind vorbeigerannt und haben ihn nicht angerührt. Als alle weg waren, sagt der: Los, jetzt lauf in die andere Richtung. Also, der hat ihn wirklich gerettet.
Lena: Wir gehen gerade zu der Hütte der Schytomyrer, da sehe ich Andrej, den Beleuchter vom Franko-Theater. Er steht da in Helm und Uniform, mit einem Schläger in der Hand. Und er war immer so wie … wie ein Teddybär. So ein ganz offenherziger, so ein … na, so ein guter Mensch. Ich gehe zu ihm hin, sehe ihm in die Augen, und er war immer so … also, seine Augen, die haben immer geleuchtet. Ich sage: „Andrjuscha, du auch hier?“ Er sagt: „Ja, ich auch.“ Und wir sagen beide gar nichts mehr. Dann sage ich einfach: „Na dann, Andrjuscha, halt dich tapfer, mach’s gut.“ Ich gehe in die Hütte, Borschtsch essen. Also … und … als ich erfahren habe, dass Andrjuscha umgebracht wurde … (schweigt)… Als Erstes fiel mir ein, wie ich ihm die Hand gedrückt und „Mach’s gut“ gesagt habe. Da wurde mir so richtig (schweigt) schlecht. Man muss sehr genau wissen, was man will. Wenn du nur schwatzt, so wie ich damals, und nicht weißt, wie du wirklich helfen kannst, dann geh lieber. Wenn du bereit bist, bleib. Wenn du nicht bereit bist, nicht so recht weißt, überlegst, was du tun sollst, dann geh.
■ Die Aufführungsrrechte für das Stück liegen beim Drei Masken Verlag München