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Archiv-Artikel

Ein Krake, der lacht

Wie einen Kraken, der Kinder aus Familien reißt und ins Heim steckt, so stellen sich viele das Jugendamt vor. Muss man doch mal gucken, ob das stimmt. Wir haben Hartmut Gerger bei seiner Arbeit im Stuttgarter Süden über die Schulter geschaut

von Sandro Mattioli

Hartmut Gerger lacht gern und viel. So ein Lachen verrät viel über einen Menschen. Es kann offen sein und freundlich und dazu einladen, sich näherzukommen. Es kann scharfe Zähne freilegen, kann verletzen. Es kann aufgesetzt sein, dann blicken die Augen hart. Hartmut Gergers Lachen ist vor allem stark. Selten laut, immer vornehm, und meistens trägt es etwas Mitfühlendes in sich. Nur an diesem Abend lacht Hartmut Gerger nicht. Der Sozialpädagoge, 46 Jahre alt, Mitarbeiter im Stuttgarter Jugendamt, gibt sich der Realität geschlagen. „Nach einem Tag wie diesem möchte ich am liebsten ein Weizenbier trinken gehen“, sagt er.

Gerger sitzt an dem kleinen, runden Tisch in seinem Büro im Stuttgarter Süden. Hierher kommen Menschen, die Rat suchen oder Hilfe brauchen: Eltern, die ihre Kinder vernachlässigen, Mütter, die mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert sind. Manchmal haben sie Kinder dabei, die mit der Erziehung ihrer Eltern überfordert sind. Oft ist Gewalt im Spiel. Mit alldem kommt er klar, einigermaßen zumindest, er muss es ja. Gerger hat das gelernt, er hat Sozialpädagogik studiert, sich weitergebildet. Er hat gelernt, Probleme als Ganzes zu betrachten und zu lösen.

Bis vor wenigen Minuten saßen an seinem Tisch noch drei Menschen, die irgendwas hier zusammengebracht hat, was noch weitgehend im Unklaren liegt. Man könnte es Schicksal nennen, doch mit solchen Begriffen kann Hartmut Gerger nicht viel anfangen. Für seine Arbeit taugen sie nicht. Er analysiert Situationen lieber, um entsprechend handeln zu können. Auf einem der Stühle saß eine Mutter, die möchte, dass ihre Tochter zu ihr zurückkommt, und das mit einem Redeschwall untermauerte. Dabei wusste sie sich bei ihrem letzten Streit nicht anders zu helfen, als die Polizei zu rufen. Auf dem Stuhl daneben ihre Tochter Charlotte. Die Beamten hatten sie in eine Wohngruppe gebracht. Um alles in der Welt will sie nicht zu ihrer Mutter zurück. Als dritte Person in der Runde: eine Betreuerin der Einrichtung. Sie sorgte sich, dass Charlotte ihre Wohngruppe durcheinanderbringt, denn Charlotte hält sich an so gut wie keine Regel.

Nicht mehr helfen zu können, das muss man ertragen lernen

Dreißig Zentimeter waren es, die die Stühle von Mutter und Tochter trennten, nicht viel. Doch die Mauer aus hartnäckigem Schweigen zwischen den beiden ist dick. Stellte Hartmut Gerger Charlotte eine Frage, antwortete die Mutter, während Charlotte still blieb, den Blick gesenkt, wie in einem unsichtbaren Raum verbarrikadiert, den nur sie öffnen kann. Manchmal schaute sie auf, hob ihre Augenlider und ließ die Menschen am Tisch kurz zu sich herein. Doch dann senkte sich ihr Kopf gleich wieder, und Mutter, Betreuerin und der Mann vom Jugendamt waren raus aus ihrem Leben. Nur einen einzigen Satz sagte die 16-Jährige während des rund einstündigen Gesprächs: „Ich möchte schon in der Wohngruppe bleiben, aber manchmal falle ich eben in alte Muster zurück.“

Wie also diesen Konflikt lösen? Hartmut Gerger dachte eine Weile nach, stand dann auf. Man könne doch einen Familienrat einberufen, sagt er, andere Verwandte sollten zwischen Mutter und Tochter vermitteln. Dann legte er ein Infoblatt auf den Tisch, das er von einem Schränkchen genommen hatte. „Hier, lesen Sie das bitte in Ruhe.“ Gerger, von seinem Vorschlag überzeugt, lächelte wieder sein warmes Lächeln. Doch dann der Blick in die Gesichter in der Runde, doch dann das laute Schweigen der Tochter, die Skepsis der Mutter: sein Vorschlag wird den Konflikt wohl nicht lösen.

Es passiert häufiger, dass Gerger sich an einem Punkt wähnt, an dem es nicht weitergeht. Manchmal, sagt er, geht dann doch auf einmal eine Türe auf, wo man keine erwartet. Er sagt sich, dass es ein kleiner Schatz sei, zu sehen, was Leben sein kann, in tausend Facetten, im Guten wie im Schlechten. Das tröstet ihn, gibt ihm neue Energie. Auch den Blick auf das Positive zu richten hilft, auf bereits erfolgte Veränderungen etwa. Nur wie es ist, wenn er nicht mehr helfen kann, wenn er keine Optionen mehr hat – damit klarzukommen, das kann man nicht lernen. Das muss man schlichtweg ertragen. Und darauf hoffen, dass sich doch noch eine Lösung findet.

Es gibt keine typischen Fälle, es gibt keine typischen Lösungen, und es gibt keine typische Klientel für das Jugendamt. Das mache seine Arbeit spannend, sagt Hartmut Gerger. Und zuweilen auch belastend. Rund hundert Fälle bearbeitet er pro Jahr, die Akten sind in einer Hängeregistratur hinter seinem Schreibtisch untergebracht. Im Hängeschrank sind Reich und Arm, Jung und Alt, Migranten und Einheimische vereint. Im Hängeschrank finden sich die Folgen sexuellen Missbrauchs, in seinen Aktenvermerken wird beschrieben, was passiert, wenn Eltern ihre Kinder vernachlässigen, ihnen keine Zuwendung geben oder diese nur in Form von teuren Geschenken. Hier drin hängt Gewalt in mannigfaltiger Form.

Der weitaus größte Teil der Akten bezieht sich allerdings auf die sogenannten Hilfen zur Erziehung, die das Jugendamt anbietet. Wenn Eltern sich überfordert fühlen, stellt ihnen die Behörde auf Wunsch professionelle Unterstützung anheim, beispielsweise Sozialpädagogen. Im Beratungszentrum Familie und Jugend Stuttgart-Süd sind das meist Mitarbeiter der Caritas, denn das Amt kooperiert stark mit der katholischen Institution. In anderen Stadtteilen sind andere Organisationen Partner.

Eine neue Woche, neue Fälle, neue Termine. Heute steht ein Willkommensbesuch an, Termine, die Hartmut Gerger und seine Kollegen gerne wahrnehmen. Die Stadt Stuttgart hat sich vor ein paar Jahren Gedanken gemacht, wie man das Image der Behörde verbessern, wie man den Leuten die Hemmungen nehmen könnte, die Mitarbeiter zu konsultieren. Ein Ergebnis davon sind diese Hausbesuche bei den Eltern Neugeborener: ein unkomplizierter Erstkontakt. Gerger schließt die Tür zu seinem Büro zu, unter dem Arm einen Ordner und ein Kapuzenhandtuch. „Nur echt mit dem Stuttgarter Rössle“, sagt er und zeigt auf das schwarze Pferdchen, das in den Stoff gestickt ist. Eine aus Afrika stammende Familie hat Nachwuchs bekommen. Gerger kennt das Paar und seine Kinder bereits. Viele Termine kann Gerger zu Fuß absolvieren, da er nur für Familien im Süden zuständig ist.

Die Standardfrage: „Muss jetzt jemand ins Heim?“

Vor der Haustür der Familie haben sich gerade zwei halbwüchsige Mädchen getroffen, sie beobachten Gerger, wie er nach dem richtigen Klingelknopf in der breiten Leiste von Klingelschildern sucht. „Zu wem wollen Sie?“, fragen sie ihn, und ob er von der Polizei sei. Nein, antwortet Gerger ruhig und lächelt, er komme vom Jugendamt. „Muss jetzt jemand ins Heim?“, fragt eines der Mädchen.

Mit solchen Vorurteilen haben Hartmut Gerger und seine Kollegen zu kämpfen. Das Image des Jugendamtes ist schlecht. Wenn das Amt gut arbeitet, bekommt das niemand mit. Wenn aber irgendwo in Deutschland ein Mitarbeiter versagt hat, steht das mit dicken Schlagzeilen in den Zeitungen. Das Jugendamt wird wie eine nationale Behörde wahrgenommen. Das ist ungerecht, zumal die Arbeitssituation ganz unterschiedlich sein kann, je nachdem, wie viel den Kommunen eine gute Betreuung von Jugendlichen wert ist.

Und dann immer wieder das Bild, dass Mitarbeiter des Jugendamts einem großen Kraken gleich Kinder aus Familien herausreißen und ins Heim werfen. Jemanden gegen seinen Willen irgendwo einweisen zu lassen, sei das letzte Mittel, sagt Gerger. Seit zwölf Jahren arbeitet er für das Stuttgarter Jugendamt, er selber hat noch nie zu diesem Mittel gegriffen. Wohl aber hat er schon manchmal damit gedroht, um eine Lösung in einem Konflikt zu erreichen. Sein Amt könne auch gar niemanden in einer geschlossenen Einrichtung unterbringen, sagt Gerger: Entweder müssten die Eltern die Unterbringung beantragen, oder das Familiengericht bestimme sie. Es bringe auch gar nichts, das gegen den Willen der Eltern zu machen, erklärt Gerger, sonst habe man sowohl die Eltern wie auch den betroffenen Jugendlichen gegen sich. Sein Credo aber lautet, dass sich Veränderungen nur erreichen ließen, wenn sie gewollt seien.

Manchmal drängen sich diese Veränderungen auch auf. Hartmut Gerger sitzt inzwischen auf der geräumigen Wohnzimmercouch der Familie, vor sich einen Glastisch. Acht Menschen wohnen hier, geordnete Verhältnisse. Anders als von den Mädchen unten vor dem Haus befürchtet, wird hier niemand ins Heim eingewiesen, sondern die kleine Selma zu Hause begrüßt. Die Mutter hat sich entschuldigt, sie habe einen dringenden Termin. Der Vater wollte eigentlich für seinen Deutschtest tags drauf üben. Doch jetzt sitzt er neben Gerger auf dem Sofa, seine Tochter an seiner Schulter und ein freudiges Strahlen im Gesicht. Der Test klappt sicher, sie sprechen ja schon so gut Deutsch, spricht Gerger dem jungen vielfachen Vater Mut zu. Das Mädchen döst ruhig und zufrieden.

Er habe da noch eine Frage, sagt der Mann schüchtern. Ob das Amt auch etwas für die Familienplanung habe? Hartmut Gerger schaut ratlos. Schließlich huscht ihm wieder sein gewohntes Lächeln ins Gesicht. Sie meinen im weitesten Sinne Verhütung, fragt er zurück. Ja, antwortet der Mann erleichtert. Er möge zwar Kinder, aber alle zwei Jahre ein neues, das sei langsam doch zu viel. Familienplanung – das gehört nicht zu den Aufgaben des Sozialpädagogen. Helfen will Gerger trotzdem – und klemmt sich ans Telefon. Wenige Tage später haben die Eltern einen Termin bei Pro Familia.

Im zweiten Teil der Geschichte ist in der nächsten Woche zu lesen, wie die Mitarbeiter des Jugendamtes mit dem Druck umgehen, der auf ihnen lastet: Machen sie einen Fehler, kann das dramatische Folgen haben, und die Boulevardpresse freut sich, die Betreuer an den Pranger stellen zu können.